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Berlin: Konstantin Bock, geb. 1990

Sonntags war immer Familienkuscheln. Dann kam Konstantin ins Bett seiner Eltern.

Sonntags war immer Familienkuscheln. Dann kam Konstantin ins Bett seiner Eltern. Schon als kleines Kind hatte er das geliebt. Da packte ihn manchmal mitten in der Nacht der unüberwindbare Drang nach Mama und Papa. Schlaftrunken zerrte er das Kopfkissen und die Decke hinter sich her - so müde, dass er manchmal schon auf dem Bündel Bettzeug zusammensackte, sobald das elterliche Bett in Sichtweite war. Jeden Sonntagmorgen gab es auch die Kissenschlacht mit Papa, dann das Familienfrühstück und dann den Besuch bei den Großeltern in der Datsche vor der Stadt. Als einziges Kind in der achtköpfigen Familie verwöhnten sie Konstantin.

Vor allem mit Pokémon-Spielzeug. Die japanischen Phantasie-Figuren, die gegeneinander kämpfen, ohne sich zu töten, waren Konstantins Liebstes. Mehr als 100 Sammelkarten hatte er, nachmittags tauschte er sie mit Paul und Nora, den besten Freunden, auf dem Kollwitzplatz. Über die besonderen Fähigkeiten seiner Lieblinge konnte er Endlos-Geschichten zum Besten geben. "Soll ich dir mal erzählen ...", fing er dann an. Seine Eltern, ob sie nun wollten oder nicht, waren in kürzester Zeit Experten der Pokémonwelt. Sie lernten alles über Pikachus, Goldbats und Turtoks Selbstverteidigungskünste - Donnerschock, Hyperstrahl und Rankenhieb - und gewöhnten sich daran, dass ihr Kind zum Geburtstag Karten schrieb wie "Liebe Mami, viel Glük in deinem nächsten Lebensjar wünschen Pikachu und Konstantin".

Wenn seine Figuren kämpfend untergingen oder wenn er, im Schneidersitz auf dem Wohnzimmerboden sitzend, gegen den Gameboy verlor, konnte er zwar fluchen wie verrückt. Aber er gehörte nicht zu den hyperaktiven, kaum zu bändigenden Kindern. Er war eher der ruhige Beobachter. Mit einem Herz für Außenseiter: Einen neuen Jungen in der Klasse, der von den Mitschülern abgelehnt wurde, nahm er mit zum Spielen. Und wenn er glaubte, dass beim Sport etwas ungerecht zugegangen war, konnte er auch der eigenen Mannschaft einen Punkt wieder streitig machen.

Konstantin Bock war ein problemloses Kind. Seit der schnellen Geburt schon. Er kam an dem Tag auf die Welt, als Deutschland Fußballweltmeister wurde, und dem Vater begegneten auf der Straße nur strahlende Gesichter. Stehen konnte er mit sieben, laufen mit elf Monaten. Mit zehn Jahren war er größer als die anderen Kinder, nicht zu dick, nicht zu knochig. Ein hübscher Junge mit semmelblonden Haaren, der im Schwedenurlaub mit Sommersprossen und sonnengeröteten Wangen aussah wie Astrid Lindgrens Michel aus Lönneberga.

Noch war die Haut jungenhaft glatt. Die ersten Zeichen der Pubertät ließen auf sich warten. Allerdings löste sich Konstantin in letzter Zeit manchmal von der Hand der Mutter, wenn hübsche Mädchen - die er offiziell noch doof fand - seinen Weg kreuzten. Und er fand sich toll erwachsen, wenn er seine Freunde lässig mit "Mensch, Alter" begrüßte. Rebellionen? Höchstens gegen das Zähneputzen. Jeden Tag, früh und abends. Bis der Papa auf die Idee kam, dem Sohn Gesellschaft zu leisten, mit der Eieruhr in der Hand. Vier Minuten waren Pflicht. All das, was Veränderung oder Abnabelung bedeutet hätte, lag noch in der Zukunft der zufriedenen kleinen Familie.

Konstantin wollte, was alle Kinder wollen: Roboter-Erfinder werden, Dinosaurier-Filme gucken und Ritter spielen. So verkleidet ging er auch am Faschingsdienstag zur Schulfeier. Ein toller Abend. Immer noch aufgekratzt machte er sich am Aschermittwoch auf den Weg zur Schule. "Tschüss, Mama" rief er und winkte hoch zum Fenster, bevor er schwer bepackt davonzockelte. Hinten der Ranzen, vorne die Sporttasche und im Arm ein Lexikon. Daraus wollte Konstantin in der Schule etwas vorlesen. Zwei Stunden später versagte, ganz ohne Vorankündigung, auf dem Schulflur sein Herz.

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