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Krankenhaus Charité: Rettung auf der Stelle

Bei jeder Panne steht die Charité gleich unter Generalverdacht. Dass sie zu stark gewachsen ist. Kaputt gespart wurde. Und zu einer Gefahr für ihre Patienten geworden ist. Jetzt wird mal wieder an Europas größter Uniklinik herumgedoktert.

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Ein knallroter Punchingball, so groß wie eine Tischlampe, steht auf dem Schreibtisch von Silke Wika, gleich neben dem Computer. Sie hat sich den Ball zu Weihnachten geschenkt. Einmal am Tag schlägt Wika auf den Ball. Mindestens. Dann, wenn ihr wieder mal alles zu viel wird. Am liebsten hätte sie einen Boxsack gekauft.

Aber ein Boxsack passt nicht in das Büro von Silke Wika, der Krankenschwester seit 30 Jahren. Sie leitet die Kinderrettungsstelle der Charité, außerdem zwei weitere Stationen, sie ist verantwortlich für 53 Schwestern und Pfleger. Kein leichter Job. Erst recht nicht, seitdem große Krankenhäuser wie Konzerne funktionieren – „die Ökonomisierung der Medizin ist Realität“, sagte Karl Max Einhäupl, der Vorstandschef, auf dem Neujahrsempfang Ende Januar. Erst recht nicht seit Einführung der Fallpauschale vor neun Jahren.

Seitdem bekommen die Krankenhäuser pro Behandlung Geld und nicht mehr pro Liegetag. Seitdem steigt die Zahl der Patienten ständig, an der Charité jährlich um drei Prozent. Weil gleichzeitig gespart werden musste, damit der Krankenhauskonzern endlich schwarze Zahlen schreibt, wurden Stellen gestrichen. Wie viele, das will kein Verantwortlicher genau sagen. Jeder, den man in der Charité fragt, bestätigt aber, dass die Arbeitsbelastung für das Pflegepersonal in den vergangenen Jahren enorm gestiegen sei.

Auch Silke Wika hat jetzt weniger Kollegen als noch vor ein paar Jahren. Und sechs Stellen sind nicht besetzt. Denn in Deutschland fehlen Kinderkrankenschwestern und überhaupt Pfleger. Fast jeden Tag gibt es Schwierigkeiten, die Schichten zu besetzen. Wenn die Stationsleiterin niemanden in der Kinderklinik findet, fragt sie bei Leiharbeitsfirmen. „Ich fühle mich wie in einem Hamsterrad“, sagt sie. „Ich schaffe es nur selten, alles, was ich zu tun habe, in der regulären Arbeitszeit zu erledigen.“ Allein für die Patientendokumentation gehen fast vier Stunden täglich drauf. Wika geht in Abwehrhaltung, wenn sie über den Stress spricht. Zieht die Schultern hoch, schlägt die Beine übereinander, überkreuzt die Arme. „Ich habe immer das Gefühl, nicht genug Zeit für die Patienten zu haben.“

Wenn dann noch etwas Unvorhersehbares passiere, dann werde der Job fast unerträglich, sagt Silke Wika. So wie im vergangenen November. Damals soll einer ihrer Mitarbeiter in der Rettungsstelle eine 16-Jährige vergewaltigt haben. Wika dachte in jener Zeit häufig, sie stehe kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Die negativen Schlagzeilen, die Kritik von außen, „das war zu viel“.

Doch Unvorhersehbares passiert an der Charité häufiger. Der Vergewaltigungsvorwurf gegen den Pfleger war nur der jüngste Vorfall, der in die Schlagzeilen kam. Ebenfalls im November entdeckte man in der Frühchenstation Serratien-Keime, 22 Neugeborene infizierten sich. Ein paar Tage lang sah es so aus, als ob ein Frühgeborenes an der Infektion gestorben sei; der kleine Leichnam musste exhumiert und obduziert werden – der Verdacht bestätigte sich nicht. Wie auch beim Missbrauchsfall setzte sich nach wochenlanger Aufregung die Erkenntnis durch, dass der Charité nichts vorzuwerfen sei, abgesehen vom miserablen Krisenmanagement. Und doch melden sich immer wieder Patienten, die berichten, dass sie, hilflos auf einer Krankenliege, in einem Gang vergessen wurden oder durch fatale Behandlungsfehler fast zu Tode gekommen seien.

Das Universitätsklinikum scheint unter einem Generalverdacht zu stehen: Geht auf einer Station etwas schief, ist nicht ein einzelner Erreger schuld, ein Arzt oder das Gesundheitssystem, sondern gleich die ganze Institution. Der Klinikkonzern sei eben viel zu groß, heißt es dann, und seit dem Mauerfall allmählich zu Tode gespart worden.

Die Charité, ein Leuchtturm der biomedizinischen Wissenschaft – oder nur ein Krankenhaus, das man besser meidet?

Die Hälfte aller neuen Mitarbeiter hält es nicht aus

Die Politik hat seit der Wende eindeutig zu viel an Berlins berühmtestem Krankenhaus herumgedoktert. Jetzt endlich, Mitte Februar, wollte der rot-schwarze Senat ein „Zukunftskonzept Charité“ vorlegen. Einen Gesamtentwicklungsplan, das hört sich an wie der große Wurf. Aber schon wieder gibt es Streit, vor allem ums Geld. Frühestens im August 2013 wird das Konzept fertig sein, SPD und CDU müssen es mit den laufenden Haushaltsberatungen für 2014/15 erst noch in Einklang bringen. Es geht um 600 Millionen Euro für Investitionen. Nach dem Traditionsstandort in Mitte, für den in einem ersten Masterplan bereits 330 Millionen Euro mobilisiert worden sind, sollen bis 2024 die Kliniken Rudolf Virchow in Wedding und Benjamin Franklin in Steglitz saniert und modernisiert werden. Im Gegenzug muss die Charité nicht mehr benötigte Immobilien abgeben, es geht um eine riesige Fläche von 19 Hektar. Die Kooperation mit dem landeseigenen Krankenhauskonzern Vivantes soll verbessert und viele Fachbereiche und Institute müssen neu geordnet werden. Auch der Bund springt mit ein, die künftige Zusammenarbeit mit dem Max-Delbrück-Centrum wird gerade mühsam ausgehandelt. Charité-Chef Einhäupl, ein international renommierter Neurologe, wird es wohl vom Gelingen dieser Operationen abhängig machen, ob er bleibt. Sein Vertrag läuft im Sommer aus.

Das Sparprogramm der vergangenen Jahre haben vor allem die Kämpfer am Krankenbett zu spüren bekommen, die Krankenschwestern, Ärzte und Pfleger. Für Silke Wika ist heute wieder so ein Tag. Sie hat seit zwei Stunden Feierabend, doch eine Kollegin ist krank und es fehlt jemand für die Nachtschicht, also greift die Stationsleiterin zum Telefon: „Tut mir wirklich leid, dass ich dich schon wieder frage.“ Sie seufzt und stützt die Ellbogen auf den Schreibtisch. „Aber ich will die Neue nicht schon wieder an ihrem freien Tag bitten, eine Schicht zu übernehmen, sonst geht sie mir auch noch verloren.“

Die Hälfte aller neuen Mitarbeiter gehen nach ein paar Monaten wieder, sie halten den Stress nicht aus. Und Chefärzte sagen hinter vorgehaltener Hand, dass sie sich wundern, dass nicht mehr Pannen passieren angesichts der hohen Arbeitsbelastung. „Man muss den Job lieben und ein Helfersyndrom haben“, sagt Wika. Immerzu Schichtdienst. Oft volle Wartesäle und die damit einhergehenden Beschwerden. Aufgaben, die nicht enden wollen. Und ständig das schlechte Gewissen, nicht genug Zeit für die Patienten zu haben. Ist das nun typisch für die Charité? Oder auch für jedes andere Krankenhaus der Stadt?

Der Leitspruch - "Forschen, Lehren, Helfen, Heilen."

Geht es um die Qualität einer Klinik, gilt bei vielen Patienten die Rettungsstelle als Indikator. Auch in Mitte, im Bettenturm, funktioniert die Notaufnahme nach ihren eigenen Regeln. „Sie gleicht der Vorhölle, wenn es voll ist“, sagt Petra Gebert (Name geändert). Die 46-Jährige ist zu einer Expertin wider Willen geworden. Drei Mal saß sie innerhalb weniger Monate hier im Erdgeschoss – und machte jedes Mal eine andere Charité-Erfahrung. Bei der Mittelohrentzündung ihres Sohnes stand ziemlich schnell ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt vor dem wimmernden Kind. Das zweite Mal musste sie ihre Mutter ins Krankenhaus bringen.

Der Warteraum war voll. „Eine junge Frau tigerte ständig von einer Tür zur nächsten, eine vielköpfige türkische Familie verhandelte ihre Sorgen lautstark und eine alte Dame saß zusammengesunken in einem festgeschraubten Stuhl.“ Zwei Tage lang blieb die alte, verwirrte Frau in einem Bett in der Rettungsstelle. „Um sie herum Notfälle, schreiende Menschen, rennende Ärzte und Schwestern.“ Beim dritten Mal schließlich saß Petra Gebert selbst mit nur vier anderen Patienten auf den Plastiksitzen – und der Weg führte von dort direkt in die Hautklinik. Vier verschiedene Stationen lernte sie kennen, hatte aber nie das Gefühl, dass „das Krankenhaus kaputt gespart“ worden sei.

Doch die 300-jährige Geschichte des Klinikums zeigt, wie schwierig es ist, dem Leitspruch „Forschen, Lehren, Heilen, Helfen“ gerecht zu werden. Man könnte auch sagen, dass die Charité mit diesen Aufgaben chronisch überfordert ist. Angesichts dessen haben die Männer im Vorstand gelernt, jeden neuen Vorfall routiniert abzuwiegeln. Der ärztliche Direktor der Charité, Ulrich Frei, spricht von den „sogenannten Skandalen“. Vorstandschef Einhäupl brachte auf dem Neujahrsempfang das Publikum mit dem Satz zum Lachen: „Ich muss aufpassen, dass ich die Würdenträger in der richtigen Reihenfolge nenne, damit wir nicht wieder schlechte Presse bekommen.“ Ein anderes Vorstandsmitglied sagt: „Man kann das Medieninteresse mit dem an Angela Merkel vergleichen: Wenn die Kanzlerin in Bademantel und Schlappen aus dem Haus geht, kommt ihr Foto auf die Titelseite. Wenn das ein normaler Bürger macht, interessiert es keinen.“

Der Manager wollte damit wohl sagen, dass über die Charité zwar öffentlichkeitswirksam geklagt wird, dass das Klinikum aber nicht schlechter dasteht als andere Krankenhäuser. Statistische Belege dafür, dass sich die Charité zu einer Gefahr für die allgemeine Gesundheit entwickelt, gibt es nicht. Im vergangenen Jahr haben etwa 40 000 Menschen einen Fragebogen ausgefüllt, den jeder Patient erhält. 85 Prozent erklärten, sie würden die Charité weiterempfehlen. Nur das Essen und die Zimmer gefallen den Patienten weniger. Das Wochenmagazin „Focus“ kürte das Uniklinikum nach Umfragen unter Ärzten 2012 sogar zum besten Krankenhaus Deutschlands. Wesentlich durchwachsener fällt die Bilanz bei den regelmäßig von Tagesspiegel und Gesundheitsstadt Berlin durchgeführten Befragungen Berliner Ärzte nach empfehlenswerten Kliniken aus. Laut dem jetzt erschienenen "Klinikführer Berlin-Brandenburg 2013" empfehlen die befragten Mediziner bei weitem nicht für alle Krankheiten die Charité. In der Brustkrebschirurgie, bei der Behandlung eines Leistenbruches oder bei der Implantation künstlicher Hüftgelenke zum Beispiel liegen andere Kliniken in der Stadt vorne.

Im Universitätsklinikum werden besonders viele komplizierte Operationen durchgeführt, und das sehr erfolgreich. Die Sterblichkeit bei den Operationen ist im bundesweiten Vergleich unterdurchschnittlich niedrig. Jedes Jahr werden etwa 150 000 Patienten stationär behandelt, mehr als 500 000 ambulant, so viele wie an keiner anderen deutschen Uniklinik. Die Charité ist Berlins zweitgrößter Arbeitgeber, mit 107 Kliniken und Instituten und 3200 Betten. Kein anderes Krankenhaus in Deutschland hat 2012 so viele Drittmittel für die Forschung eingeworben. Mehr als eine Milliarde Euro hat die Charité 2012 umgesetzt und im zweiten Jahr in Folge schwarze Zahlen geschrieben. Für das Wirtschaftsjahr 2013 hofft die Charité wieder auf eine schwarze Null.

185 Millionen für den Standort in Mitte

Der Kampf um den guten Ruf hat mit dem Mauerfall begonnen. Damals mussten im zusammenwachsenden Berlin drei Universitätsklinika, Benjamin Franklin und Rudolf Virchow im Westen und die Charité im Osten der Stadt, viele Jahre ums nackte Überleben kämpfen. Parteien und Krankenkassen, Hochschulrektoren, Forschungseinrichtungen und Verbände machten sich mal für diesen, mal für jenen Standort stark, bis 2003 nach langem Streit die Fusion zu Europas größtem Universitätsklinikum vollendet war. Aber es kehrte keine Ruhe ein. Nach der großen Koalition bekam auch der rot-rote Senat die Grundprobleme der Charité nicht in den Griff. Es fehlte Geld für dringend notwendige Sanierungen und Neubauten, es gab aber auch keine gemeinsame Idee für Reformen, um die Charité im internationalen Wettbewerb der biomedizinischen Forschung zukunftssicher aufzustellen. Von den Problemen des alltäglichen Krankenhausbetriebs ganz zu schweigen.

Befragt nach der Zukunft des Universitätsklinikums sagte Finanzsenator Ulrich Nußbaum den schönen Satz: „Die Macht des Geldes wird den Weg zeigen.“ Als er von Abgeordneten der Opposition gefragt wurde, was damit gemeint sei, sagte Nußbaum in einer Ausschusssitzung, man könne es auch einfacher formulieren: „Ohne Moos nix los.“ Mit dieser Weltsicht eines Sparfuchses und Privatunternehmers wird sich der Charité-Vorstand weiter auseinandersetzen müssen, auch wenn der Finanzsenator nicht mehr Vorsitzender des Aufsichtsrats ist. Denn es fehlt Geld für Pflegekräfte, das die Charité ohne Hilfe des Landes, nur aus eigener Kraft wohl nicht mobilisieren kann. Die Gewerkschaften fordern einen neuen Tarifvertrag, der in den einzelnen Krankenhausstationen eine personelle Mindestbesetzung vorschreibt.

Es fehlen aber vor allem öffentliche Mittel für die Sanierung der betagten Charité. Das Bettenhochhaus in Mitte, am historischen Stammsitz, dessen Fassade und bauliche Substanz in Auflösung begriffen ist, ist seit Jahren ein weithin sichtbares Symbol des Mangels. Bis Frühjahr 2016 wird es endlich grundsaniert, das kostet 185 Millionen Euro. Die Patienten werden neben der Baustelle in Containern untergebracht. In ganz kleinen Schritten geht es also voran, aber was fehlt, ist der zwar angekündigte, aber bisher nur in groben Umrissen erkennbare Reformplan für das kommende Jahrzehnt.

Ein Konzept also, dass auch Silke Wika und ihren Kollegen auf Dauer hilft. Am frühen Abend läuft die Krankenschwester ein letztes Mal an diesem Tag durch ihre Stationen, um nach dem Rechten zu sehen. Im Gehen hebt sie ein dreckiges Taschentuch vom Boden auf und wirft schmutzige Handtücher in den Wäschekorb, holt sich jedes Mal Desinfektionsmittel aus dem Spender. In einem Zwei-Bett-Zimmer streicht die Krankenschwester mit der Hand über die vergilbten Wände und sagt entschuldigend: „Seit 15 Jahren war kein Maler da, dafür gibt es leider kein Geld.“ Sie bleibt erst stehen, als eine Kollegin sie anspricht. Es geht um ein Problem mit der Mutter eines kleinen Patienten. Wieder zurück im Büro, erzählt Wika vom Deeskalationstraining, das sie und ihre Mitarbeiter absolvieren, um besser mit schwierigen Patienten umzugehen. Es gibt Teambesprechungen und Fortbildungen, „aber wenn es so weitergeht, noch mehr gespart wird und wir noch mehr zu tun haben, weiß ich nicht mehr, wie das noch zu schaffen sein soll“. Ihre Stimme wird ganz dünn.

Ein Krankenhaus sei doch keine Fabrik. „Menschen sind kleine Wunderwerke, jeder Patient braucht Zeit und Aufmerksamkeit, um gesund zu werden.“

Silke Wika liebt ihre Arbeit. Aber den eigenen beiden Töchtern hat sie verboten, Krankenschwester zu werden.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

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