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Sich selbst treu. Vor rund 30 Jahren emigrierten Wolfgang (links) und Max Müller nach Kreuzberg. Seitdem gingen sie nicht mehr fort.

© Paul Zinken

Gestern und heute: Kreuzberg: Lebens- und Leidensform

Für die Künstler Wolfgang und Max Müller ist Kreuzberg ein Bekenntnis, eine Lebens- und eine Leidensform, vielleicht sogar die einzig lohnenswerte. Auch deshalb gibt es bei uns ab sofort auch eine eigene Kreuzberg-Seite mit Bildern, Hintergründen und Service.

Von Kerstin Decker

Sie sind Brüder, kommen mit dem Rad und fast zugleich. Der eine vom Neuen Kreuzberger Zentrum, das schon tot zur Welt kam – bekannt auch als Kottbusser Tor –, der andere aus der Waldemarstraße, die der „Spiegel“ einst zur „schlimmsten Straße der Republik“ ernannte. Das war, als die Künstlergruppe „Die tödliche Doris“ im Frontkino nächtens ihr Pfingstfest feierte, während zwei Stockwerke darüber die unentdeckte, in Plastikfolie verschnürte Leiche einer Frau fortgeschrittenen postmortalen Stoffwechselprozessen oblag.

So ist Kreuzberg!, behauptete damals der „Spiegel“. Manche glauben das noch heute, erst recht Anfang Mai. Andererseits wird es inzwischen selbst am Kottbusser Tor schwierig, eine Wohnung zu bekommen, zumindest wenn man Türke ist. Die Hochsprachlichen nennen das Gentrifizierung. Quo vadis, Kreuzberg?

27 Jahre später – von der Tödlichen-Doris-Pfingstparty aus gesehen. Dies hier ist auch nicht die Waldemarstraße, sondern die Adalbertstraße – sie kreuzt die Waldemarstraße bloß –, und es ist auch nicht das Frontkino, sondern ein französisches Bistro, vor dem Max und Wolfgang Müller ihre Fahrräder aneinanderlehnen. Sie sind nicht nur Brüder, vor allem sind sie Kreuzberger. Sie wussten immer: Kreuzberg ist ein Bekenntnis, eine Lebens-, Liebes- und Leidensform, vielleicht die einzig lohnenswerte. Daran hat sich nie etwas geändert. Und nie sind sie fortgegangen wie so viele andere.

Das Chez Michel öffnet gerade, es ist eine gute Kreuzberger Morgenstunde, 16 Uhr. Sie sitzen draußen, drin gibt es nur zwei, drei Stehtische. Wolfgang Müller hat das Chez Michel im vorigen Sommer entdeckt und glaubt seitdem, dass es der ideale Ort sei, um Kreuzberg zu verstehen. „Weil es so, so … echt ist!“, sagt er, „großartig und trotzdem bezahlbar“.

Müller schätzt gutes Essen wie fast alle Kreuzberger. Die Kübelkommandos, die das Gut-Essen-Gehen einst für einen besonders snobistischen Auswuchs des Weltimperialismus hielten, weshalb sie der etwas gehobeneren Gastronomie regelmäßig Besuch abstatteten, sind Geschichte. „Drei alte Franzosen kochen hier“, verspricht Müller, als ein recht junger Nichtfranzose, Koch und Kellner in Personalunion, herauskommt. Den hatte ich glatt vergessen!, geben Müllers Augen zu. Sie sind sehr blau, bestimmt sind schon viele darin ertrunken. Sind sie nicht gar blaumeisenblau, kobaltfarben?

Wolfgang Müller ist nicht nur der Gründer der untergegangenen Künstlergruppe „Die tödliche Doris“, sondern auch größter lebender Blaumeisenexperte Deutschlands sowie Präsident der „Walther von Goethe Foundation Reykjavik“. Soeben hat im Kunsthaus Dresden eine große Wolfgang-Müller-Retrospektive begonnen. Soweit kann man es als Kreuzberger bringen, wenn man nur eines schafft: sich selbst treu zu bleiben. Als Lebens- und sonstiger Künstler. Der Verfasser des „Deutsch-isländischen Blaumeisenbuchs“ erklärt die Blaumeisen, seinen Stadtteil, die Kunst. Und dass er sich als Künstler nur hier vorstellen könne. Und auf Island natürlich. Und dass ihn nichts so sehr interessiere wie die Wirklichkeit, die jeder etwas anders wahrnimmt, womit wir schon am Ursprung aller Kunst wären und bei Müllers Selbstberufung als „Wahrnehmungswissenschaftler“.

Keine Ruhmsucht, denn der kommerzielle Erfolg gilt als verdächtig

Sein kleiner Bruder Max, 47 Jahre alt, schmaler und größer als er, lehnt mit dem Rücken an der Wand des Chez Michel, ein wenig anwesend-abwesend, wie wohl immer, wenn sein großer Bruder zu reden beginnt und er aus Erfahrung weiß, dass das nicht so bald aufhört. Manchmal steht er auch so auf der Bühne, denn im Unterschied zur „Tödlichen Doris“ gibt es Max Müllers Band „Mutter“ immer noch und ihre jüngste Platte „Trinken. Singen. Schießen“ ist nach Meinung von Kennern „das vielleicht wichtigste deutschsprachige Album“ des letzten Jahres. Soweit kann man es als Kreuzberger bringen, wenn man nur eines schafft: sich selbst treu zu bleiben.

Es ist keine Ruhmsucht dabei; der kommerzielle Erfolg galt in Kreuzberg schon immer als etwas verächtlich.

Max Müller trägt eine tiefdunkle, eckige, goldgerahmte 70er-Jahre-Sonnenbrille, die er nicht absetzt, obwohl das Chez Michel im Schatten liegt wie ganz Kreuzberg eigentlich noch immer. Im Schatten von Rest-Berlin. Und dabei war es, als die Mauer fiel, beinahe eine Zweigstelle von New York!

Wie lange das her und wie nah es noch immer ist, steht in Wolfgang Müllers blaumeisenblauen Augen. In Max Müllers Augen steht gar nichts, wegen der Brille. Und immer, wenn man ihn anschaut, denkt man, dass er irgendwie aussieht wie John Lennon. Nur wie kann das sein, da Lennon doch runde Brillen trug? Von dieser Art, bloß subtiler, sind die Fragen, die in Kreuzberg mehr als anderswo als die eigentlichen Fragen des Lebens gelten.

Der getürkte französische Kellner bringt dem Ornithologen einen Cappuccino mit Apfeltarte und dem Sänger von Mutter eine Cola mit Strohhalm. Welcher echte Kreuzberger ist schon echt? Echte Berliner vermutete man bereits in den Achtzigern höchstens bei der BVG, der Polizei oder im Arbeitsamt. Fast jeder Kreuzberger aber hat – noch häufiger als die Berliner insgesamt – einen Migrationshintergrund. Wolfgang und Max Müller kommen aus Wolfsburg.

„In Wolfsburg sind wir Stars“, sagt Wolfgang Müller, um der Bescheidenheit halber nicht hinzuzufügen, dass er auch in Island ein Star ist. Heimatstädte vergessen ihre entlaufenen Söhne nie, auch wenn diese nicht vorbehaltlos gut auf sie zu sprechen sind. „Wolfsburg ist eine Nazigründung, da war vorher nichts, wussten Sie das?“, fragt Wolfgang Müller und es klingt wie: Wolfsburg war und ist ein großes Arbeitshaus. Und so normiert wie die Arbeit war der Feierabend. Und die Schule.

Wäre es sonst möglich gewesen, dass der Rektor des Wolfsburger Ratsgymnasiums dem rein hirnlich auffällig begabten Arbeiterkind Wolfgang einen Schulverweis erteilte? Weil es sich geweigert hatte, seine schwarze Baskenmütze während des Französischunterrichts abzunehmen. Damals wurde Wolfgang Müller politisiert. Zuerst dachte er wie das Wahlvolk und alle Politiker rein parteistrategisch: Der Schuldirektor ist in der SPD, also sollte man selbst für die CDU sein. Er blieb Jungpropagandist der Christdemokraten bis zu dem Tag, da der CDU-Kreisgeschäftsführer Schwule als pervers bezeichnete. Pervers aber war es auch, während des Französischunterrichts die Baskenmütze nicht abzunehmen. Was den Spießer ausmacht, ist nicht das geringe Einkommen bei gleichzeitigem Drang zum Höheren, es ist – egal ob einer Gymnasiallehrer in Wolfsburg war oder Berliner Finanzsenator – die ungeheure Selbstgerechtigkeit des Denkens und Wahrnehmens. „Auch Künstler können Spießer sein!“, bemerkt Müller, der Ältere, für einen Augenblick in tiefes Nachdenken versunken.

Er gründete in Wolfsburg noch die revolutionäre Befreiungsfront „Rosa Käfer“, die in ihrer Hochphase 15 Mitglieder besaß, flog endgültig von der Schule und war nun genau das, was die Nichtkreuzberger ohnehin in einem Kreuzberger vermuteten: ein schwer vermittelbarer ungelernter Hilfsarbeiter ohne Schulabschluss. Das war die Außenperspektive, die Innenperspektive war: Das Leben liegt vor mir!

So wie Wolfgang Müller emigrierten Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger unzählige junge Menschen – größte Untergruppe waren die Wehrdienstverweigerer – aus der alten Bundesrepublik nach Kreuzberg, um das zurückgelassene Gebiet fortan mit gehöriger Distanz „Westdeutschland“ zu nennen. Der kleine Bruder begann noch eine Malerlehre, befand jedoch, dass das Leben zu kurz sei, um anderen Leuten hässliche Tapeten an die Wände zu kleben, und folgte seinem Bruder mit siebzehn.

Ihre Eltern waren nach dem Krieg als Flüchtlinge nach Wolfsburg gekommen, aus Ostpreußen und dem Sudetenland, und nun flohen ihre Kinder? Wie sollten sie, zwei brave Bandarbeiter des Lebens, das interpretieren?

Genau hier, wo Max und Wolfgang Müller jetzt im Schatten sitzen, sollte einmal die Stadtautobahn gebaut werden, quer durchs Chez Michel, quer durch Kreuzberg, genau hinter dem Neuen Kreuzberger Zentrum entlang, das noch heute als definitive Widerlegung jedes architektonischen Traums vom Sozialen Bauen gelten darf. Weshalb es seit nunmehr fast vierzig Jahren versucht, die böse Abkürzung NKZ mit Würde zu tragen. Alle Straßen ringsum: Abrissgebiet. Die Kreuzberger sahen das anders. So begann das Häuserbesetzen.

Mutter Müller hatte aufrichtige Angst, ihre Kinder in diesem unmöglichsten Stadtteil dieser unmöglichen Stadt zu besuchen. Aber kommen musste sie, denn schon die „Tödliche Doris“ war sehr mutterfixiert: „Übermuttiiii/ klopft an die Tür/ lasst mich rein/, ich will zu ihr.“ War das nicht ein Hilferuf?

Kinder in dieser unmöglichen Stadt! Die Mutter hatte Angst

Max Müller überlegt, ob er noch eine Cola trinken sollte und Wolfgang Müller erwägt einen zweiten Cappuccino. Machen die sich lustig? Hatte Max Müller nicht selbst beschrieben, wie er einmal ins Künstlerhaus Bethanien wollte, als ein goldener Mercedes 280 SE ganz langsam neben ihm herfuhr und darin saß Peter Falk und winkte, die ganze Szene getaucht in „ein unwirklich gelbes Licht“. Und Müller weiß noch heute nicht, ob er Falk wirklich gesehen oder nur zu viel getrunken hatte.

Es war überhaupt alles ein wenig surreal. Hinter Max Müllers Haus verlief die Mauer und manchmal winkten die Grenzsoldaten freundlich herüber. „Wohl weil sie glaubten, an asozialem Gesindel wie uns würde der Westen kaputt gehen“, vermutet er. Dabei war eher das Gegenteil der Fall. Allerdings hätten Westberlin und die Bundesrepublik ohne die DDR nebenan den Kreuzberger Lebensstil der kreativen Selbsterfahrung nie so großzügig-unfreiwillig subventioniert.

Bald wird das ganze Land der Errichtung eines großen Berliner Bauwerks gedenken – es wurde am 13. August vor fünfzig Jahren errichtet –, und gewiss werden alle die Kreuzberger Perspektive vergessen. Behaupten wir an dieser Stelle die Berliner Mauer als Bedingung der Existenz Kreuzbergs in seiner Blütephase. Ja, es war ein Mauerblümchen. Ein sehr buntes, manchmal auch sehr aggressives, aber eben doch ein Mauerblümchen. Und das Ideal der DDR, die allseits entwickelte sozialistische Persönlichkeit hat es vielleicht nie gegeben – höchstens in Kreuzberg. Weshalb die Müllers immer alles zugleich gemacht haben: gesungen, gemalt, geschrieben, geforscht.

Schon die Tödliche-Doris-Pfingstparty damals im Frontkino nahm den avantgardistischen Verdacht, ein jeder könne ein Künstler sein, sehr ernst. In halbstündigem Rhythmus durften Anwesende zweiminütige Performances aufführen, während über ihren Köpfen Andy Warhols Film „Empire State Building“ von 1964 laufen sollte, Dauer: acht Stunden und fünf Minuten. Leider ließ sich nur die Kurzfassung von fünf Minuten auftreiben. Das Verhältnis darf auch für die Relation von Kunsttraum und Kunstwirklichkeit in Kreuzberg stehen, aber kommt es darauf an?

Wolfgang Müller trägt einen breiten Ring, darauf steht die Nummer 252452. „Das ist ein Vogelring, wie ihn Rallenreiher, Krähenscharben und Birkhühner bekommen“, erklärt er. Die Vogelwarte Helgoland hat ihm erlaubt, ihn zu kopieren.

Die Brüder sehen sich nicht sehr oft, meist einmal im Monat. Manchmal darf Wolfgang Müller auch als special guest in der Band seines Bruders mitspielen. Oder Max malt Bilder für Wolfgang. Der große Bruder holt ein Buch aus der Tasche: „Kosmas“, Wolfgang Müllers neuer Roman, soeben erschienen, mit „Bildtafeln“ von Max. „Kosmas“ handelt von dem Kunststudenten Damien Hirst, der tote Schnaken konserviert und davon, wie man depressive Milliardäre davon überzeugt, moderne Kunst zu sammeln. Vor allem aber handelt er von der „affektiven Relationalität“, die Räume entstehen lässt: Kunsträume, zwischenmenschliche Räume vom Zweierraum bis zu jenem affektiv-relationalen Gebilde, das wir Kreuzberg nennen und das gerade seiner zweiten Blüte entgegenarbeitet, diesmal ohne Mauer.

Der Kreuzberger 1.-Mai-Umzug soll am Abend am Kottbusser Tor beginnen. Sein Motto: „Heraus zum Revolutionären 1. Mai! Für die soziale Revolution weltweit.“ Wahrscheinlich halten Wolfgang und Max Müller auch die prononcierten Autonomen und Antifaschisten für Spießer. Für Menschen eben, die feste Koordinaten fürs Leben brauchen und vor allem ein Feindbild.

Schon vor Jahren hatte Max Müller ausgerechnet das Kottbusser Tor als kleine melancholische Comicserie gemalt. „Man muss dahin gehn, wo’s wehtut“, hatte er dazu geschrieben, und über die traurigen Balkons des NKZ: „Etwas ist weg, das ich gestern noch besaß … Etwas war richtig und jetzt ist es falsch.“ Heute geht sein kleiner Sohn in den Ina.Kinder.Garten am Kottbusser Tor. So beginnt Normalität.

In der vormodernen Stadt wohnten Arm und Reich dicht beieinander. Das Hauptproblem der modernen Großstädte ist Entmischung. Wenn Gentrifizierung in Kreuzberg bedeuten sollte, dass neben der türkischen Großfamilie zunehmend wieder nichttürkische Kleinfamilien leben, so sind Wolfgang und Max Müller einverstanden. Die Kunstschickeria darf bleiben, wo sie ist.

Mutter Müller, ist inzwischen die größte Propagandistin Kreuzbergs in Wolfsburg geworden. Jeden, der etwas Kreuzbergfeindliches sagt, fragt sie: Waren Sie denn schon mal da? Die türkischen Händler mit ihren kleinen Läden, deren Freundlichkeit nicht dem anonymen Kunden gilt, sondern ihr, Frau Müller aus Wolfsburg, sind ihr wie eine Heimat geworden. Solche Geschäfte gehörten zu ihrer Kindheit, in Wolfsburg sind sie schon lange weg. Heimat, wo findet man die noch? Ausgerechnet in Kreuzberg?

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