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Berlin: Laborarbeit im Akkord – Milzbrand fand er nie

Jochen Henschke untersuchte die Briefe der Trittbrettfahrer

Von David Ensikat

Das Berliner „Institut für Lebensmittel, Arzneimittel und Tierseuchen“ und die große Angst vorm Massenmord – was sollte das miteinander zu tun haben? Der Fachtierarzt Jochen Henschke und der internationale Terrorrismus – wo ist die Verbindung?

Jochen Henschke ist heute 59 Jahre alt, alt genug, um in seinem Veterinärmedizinerstudium, Ende der sechziger Jahre, noch vom Milzbrand erfahren zu haben. Er hat diese Bakterien damals sogar unter dem Mikroskop betrachten können. Sehr interessant, dachte er, die Erreger vermehren sich so schnell. Dass der Milzbrand, eigentlich eine Tierkrankheit, für Menschen zur großen Bedrohung werden könnte, hat Jochen Henschke im Studium nicht gelernt.

Als er Anfang Oktober 2001 aus dem Urlaub heimkehrte, nach Berlin, und am Montag zur ersten Besprechung in seinem Institut erschien, da war plötzlich die Rede von eben jenen Milzbranderregern. In Amerika gab es schon einen ersten Toten. Glaubte man den Medien, war dies die neue Form des Terrorirrsinns: Massenmord durch Milzbrandpulver. Wenn Flugzeuge in Bürotürme fliegen, dann ist auch das denkbar. Alles war denkbar. Und es war nur eine Frage der Zeit, dass man auch in Berlin mit den tödlichen Bakterien zu tun hätte.

Den ersten „Milzbrand-Brief“, den Jochen Henschke in seinem Labor zu untersuchen hatte, brachte die Polizei zwei Tage nach der Besprechung vorbei, am 11. Oktober. Es war ein Brief aus Ägypten. Aus dem Land, in dem Jochen Henschke gerade seinen Urlaub verbracht hatte. Aus einem arabischen Land. Briefe aus Arabien waren nach den Anschlägen in den Vereinigten Staaten grundsätzlich verdächtig. Dieses Kuvert war an eine Berliner Schule adressiert.

Jochen Henschke streifte sich in der Laborschleuse den weißen Wegwerfanzug und die Atemmaske über und betrat den durch dicke, glänzende Stahltüren gesicherten Laborraum, in dem stets ein Unterdruck herrscht, damit zwar Luft hineinströmen kann, aber nie welche hinaus. Mit Wattetupfer, Pipette, Nährlösungen und vielfältigen Glasbehältern tat der Mikrobiologe seine Arbeit – und stellte fest, dass an dem Brief nichts festzustellen war.

Es war lediglich der Brief eines ägyptischen Schülers, der darum bat, ein paar Briefmarken in Berlin zu verkaufen und ihm das eingenommene Geld anschließend zu schicken, damit er sich einen Deutschlandbesuch leisten könne.

In den folgenden Wochen kamen die vier Tierärzte aus Henschkes Abteilung kaum zur Ruhe, sie richteten auch eine Dienstbereitschaft in der Nacht ein. Mehrere hundert Proben mussten sie untersuchen, an jeder arbeiten ein Fachmann und sein Assistent etwa zwei Stunden, um dann noch einmal einen Tag zu warten, bis man sagen kann: Milzbrand gibt’s hier nicht.

Milzbrandbakterien fanden sie kein einziges Mal, ebenso wie ihre Kollegen an den anderen deutschen Instituten. Mal fanden sie Talkumpulver, mal war es Mehl, mal Backpulver, oft fanden sie gar kein Pulver – das zu untersuchende Behältnis war nur irgend jemandem verdächtig vorgekommen.

Nach drei Monaten war die große Unruhe vorbei, die Leute vergaßen die Sache mit dem Milzbrand. Einmal im Monat, so ungefähr, gelangt noch eine Probe in Henschkes Institut, bei der es einen gewissen Terrorverdacht gibt. Zuletzt, Mitte Juli, war es ein Brief ans American Jewish Committee am Leipziger Platz. Irgendein Dummkopf, vielleicht auch ein gefährlicher, aber sicherlich keiner mit Anthrax-Labor, hat da ein weißes Pulver hineingetan. Es ist ja so leicht, die Leute auf Trab zu halten.

Jochen Henschke ist ein besonnener Mann, ein Wissenschaftler. Er sucht nach Erregern der Papageienkrankheit, er schaut nach, woran Zootiere gestorben sind, er untersucht Fleisch mit BSE-Verdacht. Ob die Milzbrand-Geschichte, die ganze Terrorismusangelegenheit wirklich sein Leben verändert hat? Nein, eher nicht. Er staunt, zu welchem Irrsinn Leute bereit sind, auch wenn er selbst den Irrsinn nie hat nachweisen müssen in seinem Labor. Und Angst? Angst davor, dass da vielleicht doch mal die tödlichen Bakterien in einer Probe enthalten sind?

Bei dieser Frage verweist Jochen Henschke zunächst mal auf die „Sorgen der Bevölkerung“. Dann zeigt er den Sicherheitsschrank, in dem er die Proben stets mit Handschuhen öffnet. „Da kann ja gar nichts passieren“, sagt Henschke.

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