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© David Heerde

Lärmproblem: Die Stadt, die niemals Ruhe gibt

Das Oberverwaltungsgericht muss inzwischen oft über Lärmklagen entscheiden – der "Knaack Klub" in Prenzlauer Berg könnte zum Präzedenzfall werden.

Berlin wird wohl nicht zur Ruhe kommen. Demnächst entscheidet das Oberverwaltungsgericht darüber, zu wessen Lasten der Lärmschutz geht, wenn neue Wohnungen ausgerechnet hinter einer Disko gebaut werden. Im Februar hatte das Verwaltungsgericht in einem Eilantrag festgestellt: Wer in einer traditionell lauten Gegend Wohnungen baut, muss selbst für Schallschutz sorgen und darf sich hinterher nicht über Lärm beschweren. Den Umbau eines Gebäudes hinter dem „Knaack Klub“ in der Greifswalder Straße in Prenzlauer Berg zum Wohnhaus erklärten die Richter für „rücksichtslos“ – die Disko gebe es seit Jahrzehnten. Das Gericht sprach den Clubbetreibern deshalb einen „Abwehranspruch“ zu.

Unter der Hand sagen Juristen aus Behörden und Kanzleien: „Wer Ruhe will, muss künftig in den Grunewald ziehen.“ Erst vor drei Monaten hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe einer Spandauer Familie erlaubt, auch sonntags Klavier zu spielen. Das Amtsgericht Tiergarten hatte ein Bußgeld von 50 Euro verhängt, weil die 16-jährige Tochter der Familie am Sonntag Klavier geübt hatte. Die Verfassungsrichter sagten, es sei gesetzlich nicht geregelt, ab wann genau die Ruhe des Nachbarn gestört sei; das Amtsgericht hätte deshalb den Begriff „erhebliche Ruhestörung“ ausfüllen müssen.

Nun wittern auch Kneipenwirte und Sporttrainer Frühlingsluft. Wie beim „Knaack“ setzen sie auf das Rücksichtnahmegebot – eine Regel, die eigentlich besagt, dass sich Anwohner gegen neue Lärmquellen in der Nachbarschaft wehren können. Umgekehrt kann danach aber auch gegen Bauvorhaben vorgegangen werden, die sich ihrerseits nicht mit bestehendem Lärm vertragen.

Für Familien und Kindergärten hat sich der Trend zu mehr Duldung von Lärm schon ausgezahlt. Vor zwei Wochen trat in Berlin als erstem Ort in Deutschland ein Gesetz in Kraft, das Kinderlärm schützt. Im Immissionsschutzgesetz wird Kinderkrach nun für „sozial adäquat und zumutbar“ erklärt. Genervte Nachbarn haben das Nachsehen. Im Gesetz wird zwischen genehmigungsbedürftigen und nicht genehmigungsbedürftigen Anlagen unterschieden. Genehmigungsbedürftig sind etwa Müllhalden, Hühnerfarmen oder Fabriken. Clubs nicht – sie müssen nur von allein dafür sorgen, dass wummernde Bässe „nach dem Stand der Technik“ nicht das ganze Viertel erschüttern. „Ob Kneipe oder Kinder – wer in eine Metropole zieht, kann keinen stillen Wald erwarten“, sagt Verwaltungsrechtler Sven Richwin.

Mit Lärm kennt sich der Anwalt aus: Er betreut seit Jahren die krawallträchtige 1.-Mai-Demonstration durch Kreuzberg. Doch Richwin gibt zu Bedenken, noch sei unklar, wo Richter die Grenze zwischen zumutbarem und unzumutbarem Lärm ziehen. Er glaubt, dass sich Clubbetreiber nicht zu früh freuen sollten. Ziehe eine Disko etwa in ein Wohnhaus, dessen Bewohner zu diesem Zeitpunkt nichts gegen lautstarke Partys haben, könnten später hinzugekommene Mieter immer noch gegen die Einrichtung vorgehen. „Ist ein neuer Mieter empfindlicher und klagefreudiger als der alte, hat der Club schnell ein Problem“, sagt Richwin. So muss sich der legendäre Punkladen SO 36 in der Oranienstraße derzeit um eine teure Lärmschutzwand bemühen.

Aus Gerichten, von Anwälten und Ämtern heißt es: Da Zivil- und Verwaltungsrecht, da Umwelt- und Bauvorschriften, da Lärmverursacher und Lärmgeplagte in Sachen Krach gleichzeitig die Justiz beschäftigen, sei mit einheitlicher Rechtsprechung erst langfristig zu rechnen. „Eine liberalere Spruchpraxis der Gerichte muss sich aber nicht durchsetzen, weil jeder Einzelfall völlig neu bewertet werden kann“, sagt ein Richter. Am Verwaltungsgericht wird jede Woche ein Fall verhandelt, der etwas mit Lärm zu tun hat. Die Richter müssen dabei nicht nur berücksichtigen, wie sozial verträglich die Geräusche sind – Kinderlärm etwa. Sie müssen auch beurteilen, wie die Umgebung geprägt ist. So einigte man sich beim Streit um die Kneipen in der Simon-Dach-Straße 2003 auf einen Kompromiss. Da Lärm ganz allgemein von 22 bis 6 Uhr verboten ist und die Gegend früher eine reine Wohngegend war, dürfen auch die Kneipen nur bis maximal 23 Uhr die Gäste an Tischen auf dem Gehweg bewirten. „Bis bei allen Gerichten anerkannt wird, dass in Innenstädten nicht nur gewohnt, sondern auch gelebt wird, werden Jahre vergehen“, sagt Richwin.

Der Landessportbund will den „Kinderbonus“ schon jetzt auch auf Stadien und Bolzplätze ausdehnen lassen. Anders als Kleinkinder und Klavierspieler gelten jedoch Trillerpfeifen und Lautsprecherdurchsagen noch nicht als „sozial adäquat“. Derzeit beugen sich knapp 40 Berliner Sportanlagen gerichtlichen Verfügungen, das heißt Training und Wettkämpfe sind einschränkt, weil Nachbarn dagegen vorgegangen sind.

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