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Landesarchiv: Als Irre abgestempelt

Zwangsjacke und heiße Bäder: Im Landesarchiv kann man Psychiatrie-Krankenakten aus der NS-Zeit einsehen.

Eine junge Frau ist des Lebens überdrüssig und springt in den Landwehrkanal. Sie wird gerettet und in die „Wittenauer Heilstätten“ eingeliefert. Es ist das Jahr 1921. Die depressive Patientin erzählt den Nervenärzten, sie sei die verschollene Zarentochter Anastasia, einzige Überlebende des Massakers durch die Bolschewisten in Russland. Das Ganze wird sich später als falsch herausstellen, eine DNA-Analyse ergibt, dass die Frau nicht Anastasia war. Doch die Geschichte der „Anna“ wird in Krankenakten festgehalten.

100 000 dieser Akten lagern seit kurzem in den Regalen des Berliner Landesarchivs in Reinickendorf – seit gestern sind sie für Jedermann einsehbar. Sie dokumentieren die Krankheitsgeschichten von Patienten aus den Jahren 1880 bis 1963 – und den Wandel der „Wittenauer Heilstätten“, die zuerst „Städtische Irren- und Idiotenanstalt zu Dalldorf“ hieß und seit 1957 den Namen „Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik“ trägt.

Der Klinikkonzern Vivantes, zu dem die Nervenklinik seit 2004 gehört, hat sich dazu entschlossen, die bisher in einem Keller gelagerten Unterlagen dem Landesarchiv zu schenken. So können ab sofort auch Verbrechen untersucht werden, die in der Klinik nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ab 1933 an kranken und behinderten Menschen verübt wurden. „Viele Patienten wurden zwangssterilisiert oder deportiert. Zudem ist deutlich dokumentiert, dass zahlreiche Menschen aufgrund von Nicht-Behandlung und Nahrungsverweigerung starben“, sagt Psychotherapeutin Christina Härtel. Die Vivantes-Mitarbeiterin beschäftigt sich seit 24 Jahren mit den Einzelschicksalen der Krankenakten. Diese seien „teilweise traurig und berührend“, sagt sie.

Christina Härtel hat gerade den Verein „Totgeschwiegen“ gegründet. Dieser will im nächsten Januar mit einer Ausstellung auf das Schicksal der zwangssterilisierten oder deportierten Patienten hinweisen. Schon 1980 habe es eine gleichnamige Präsentation gegeben. Daraufhin hätten sich viele Angehörige verstorbener Patienten auf Spurensuche begeben, berichtet Christina Härtel. Rund 2000 psychisch kranke oder behinderte Menschen jüdischen Glaubens seien ab 1941 aus den „Wittenauer Heilstätten“ deportiert worden und im KZ Meuselwitz umgekommen, sagt Härtel. Ein Teil der Krankenakten könnte auch Aufschluss über 40 Kinder geben, die im „Kinderkrankenhaus Wiesengrund“ – lebten und während der NS-Zeit medizinischen Experimenten zum Opfer fielen.

Die jetzt freigegebenen Akten zeigten anschaulich die Entwicklung des Hauses von der einstigen „Idiotenanstalt“ zur menschenwürdigen Psychiatrie der heutigen „Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik“, sagt Vivantes-Psychiatriechef Peter Bräunig. „Früher bestand die Therapie aus Zwangsjacke, heißen Bädern und Isolation. Ab 1970 ging es um Psychotherapie und nebenwirkungsarme Medikamente.“

Durch die Schenkung an das Landesarchiv hofft Vivantes, dass mehr Interessierte auf die Akten aufmerksam werden. Denn theoretisch konnte man die Unterlagen auch schon vorher einsehen – nur war ihre Existenz lediglich einem kleinen Kreis bekannt. So wurden sie für mehrere Dissertationen und Diplomarbeiten verwendet. Regisseur Rosa von Praunheim stieß auf diese Weise auf seine verschollene Mutter: Edith Radke starb 1946 in der Wittenauer Anstalt, nachdem sie ihren Sohn in einem deutschen Kinderheim in Riga zur Adoption freigegeben hatte. Die Krankenakte brachte endlich Licht ins Dunkel.

Kontakt zum Archiv gibt es unter Tel. 902640 oder online:  http://www.landesarchiv-berlin.de

Liva Haensel

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