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Birthler-Behörde: Kurras-Akte schon vor sechs Jahren gefunden

Peinliche Panne in der Birthler-Behörde: Die Stasi-Akte des Ohnesorg-Todesschützen tauchte schon 2003 auf. Aber kein Mitarbeiter erkannte ihre Brisanz. Die Behörde spricht von eienr peinlichen Panne.

Schon vor sechs Jahren hätte der Todesschütze von Benno Ohnesorg, der Westberliner Polizist Karl-Heinz Kurras, als Stasi-IM enttarnt werden können – wenn die Birthler-Behörde anders arbeiten würde. Jedenfalls hatten schon damals Mitarbeiter des Hauses die spektakulären Unterlagen in der Hand. Doch offenbar erkannten sie nicht, welchen zeithistorischen Sprengstoff sie bargen.

Seit Tagen wird heftig darüber diskutiert, ob die Verwalter des Stasi-Aktenbestandes ihre Arbeit richtig machen. Am Dienstag sagte ihre Leiterin Marianne Birthler bei der Vorstellung ihres Tätigkeitsberichtes, ein Forscher oder Journalist hätte ja nur mal die Akte anfordern brauchen, dann hätte er sie bekommen.

Doch schon zu diesem Zeitpunkt war klar, dass ihre eigene Behörde Karl-Heinz Kurras längst hätte enttarnen können. Am Tag nach der Pressekonferenz – nachdem unter anderem die ZEIT detailliert nachgefragt hatte – stellte die Behörde gestern eine Pressemitteilung auf ihre Internetseite. Darin räumt sie ein, dass die Akte Kurras seit dem Jahr 2003 in der Behörde bekannt war. Eine externe Privatforscherin, so schildert es Birthlers Sprecher, habe damals einen „sehr umfangreichen“ Antrag auf Akteneinsicht gestellt zum „Einfluss des MfS“ auf die westdeutsche und Westberliner Innenpolitik der fünfziger und sechziger Jahre.

Bei der Bearbeitung stieß ein Mitarbeiter in den Unterlagen zur Ausspähung der Westberliner Polizei auch auf einen Informationsbericht eines "Geheimen Mitarbeiters" der Stasi mit dem Decknamen "Otto Bohl"; das war – wie vergangene Woche bekannt wurde – der Deckname von Kurras, der am 2. Juni 1967 Ohnesorg bei einer Demonstration gegen den Schah-Besuch erschossen hatte. Der Sachbearbeiter habe Nachforschungen im Archiv zu weiteren Berichten "Bohls" beantragt, um sie der Forscherin vorlegen zu können: 17 Bände mit einem Umfang von bis zu 6000 Blättern.

Üblich ist, dass ein Mitarbeiter neu erschlossene Bände manuell durchstempelt. Diese Leute sind keine Wissenschaftler, sondern einfache Sachbearbeiter. Etliche Angestellte hat die Behörde 1990 auch aus dem DDR-Staatsapparat übernommen. Höchstwahrscheinlich hat der Name Karl-Heinz Kurras dem Archivmitarbeiter einfach nichts gesagt. Doch auch bei nur flüchtigem Blick hätte er eigentlich stutzig werden müssen: In den 17 Bänden nämlich finden sich auch Zeitungsberichte über die Todesschüsse auf Ohnesorg – teilweise mit riesigen Überschriften. Die kann man kaum übersehen.

Vom Archiv gehen die Akten gewöhnlich in die Abteilung „AU“ der Behörde, die externe Forschungsanträge bearbeitet. Dort werden die Akten üblicherweise von weiteren Mitarbeitern durchgesehen und – wenn er oder sie es für nötig hält – einzelne Namen oder private Informationen geschwärzt. Auch dort schlug niemand Alarm. Dazu aber ist die Behörde laut Stasi-Unterlagen-Gesetz ausdrücklich verpflichtet.

„Stellt der Bundesbeauftragte gelegentlich der Erfüllung seiner Aufgaben fest“, heißt es dort in Paragraf 27, „dass sich aus den Unterlagen Anhaltspunkte ergeben für eine Straftat im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes“ oder auch „Informationen über Spionage“, dann müsse die Behörde eine sogenannte „Mitteilung ohne Ersuchen“ machen – an das Innenministerium beispielsweise. Dies ist 2003 jedenfalls nicht geschehen. Dabei geht es im Fall Kurras um die jahrelange Lieferung sensibler Informationen aus dem Westberliner Sicherheitsapparat an den DDR-Geheimdienst, außerdem um ein Tötungsdelikt.

Steffen Mayer, der Sprecher der Birthler-Behörde, erklärt die Sache mit „Arbeitsüberlastung“. Der Mitarbeiter der Abteilung „AU“ habe sich die Kurras-Akte nicht genauer angeschaut – offenbar weil die Privatforscherin in der Zwischenzeit vor der Vielzahl der Unterlagen, die ihr auf ihren Antrag hin auf den Tisch kamen, kapituliert hatte. Der Mitarbeiter, der die Kurras-Akte hätte durchsehen müssen, ließ sie deshalb „Anfang 2004 ungelesen und unbearbeitet wieder ins Archiv“ zurückgehen.

Dort wurde sie dann Ende März dieses Jahres von einer Mitarbeiterin der Forschungsabteilung zufällig gefunden. Und erst dann, so der Sprecher, sei auch das behördeninterne Verfahren zu einer „Mitteilung ohne Ersuchen“ angelaufen.

Man könnte das alles als bedauerlichen Zufall ansehen; so tut es die Behörde. Man könnte aber auch fragen, was die Sache über die Arbeit und den Aufbau des Hauses mit etwa 100 Millionen Euro Jahresetat aussagt. Hätte die Kurras-Akte schon, wie es Kritiker der Behörde seit Längerem fordern, im Bundesarchiv gelegen, wäre sie vermutlich nicht so lange unentdeckt geblieben. Dort haben die Archivmitarbeiter in der Regel eine fachliche Ausbildung. Die Wahrscheinlichkeit, dass dort jemand über die Namen „Kurras“ oder „Ohnesorg“ gestolpert wäre, erscheint deutlich größer.

Im Bundesarchiv werden die Akten auch vollkommen anders erschlossen als in der Birthler-Behörde: Im Bundesarchiv können Wissenschaftler und Journalisten direkt – teilweise sogar per Internet – in den erschlossenen Unterlagen recherchieren. Bei der Birthler-Behörde sind sie darauf angewiesen, dass die Sachbearbeiter stellvertretend für sie an den richtigen Stellen suchen. Dabei kann es eben passieren, dass sie interessante Hinweise übersehen, die einem im Thema vertieften Wissenschaftler sofort auffallen würden.

„Karl-Heinz Kurras ist im Jahr 2003 knapp der Enttarnung als IM entgangen“, überschreibt Birthlers Sprecher in seiner Pressemitteilung den Vorgang. Er hätte aber auch formulieren können: „Unserer Behörde ist im Jahr 2003 eine peinliche Panne unterlaufen.“

ZEIT ONLINE

Toralf Staud

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