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Münteferings Vorschlag: Berlin hat schon eine gemeinsame Verfassung

Im Bund wird über eine gemeinsame Verfassung diskutiert. Berlin hat sie schon. Die Gesamt-Berliner-Verfassung wurde 1995 per Volksabstimmung angenommen.

Von Sabine Beikler

SPD–Parteichef Franz Müntefering hat auf Bundesebene eine Debatte über eine neue gesamtdeutsche Verfassung angestoßen. Viele Ostdeutsche hätten das Gefühl, dass man ihnen das Grundgesetz „einfach übergestülpt hätte“, sagte der SPD-Politiker. Auf Berlin, die Ost-West-Hauptstadt, und ihre Verfassung bezogen, sieht man in der Landespolitik dagegen keinen Änderungsbedarf. „Die jetzige Verfassung ist eine Gesamt-Berliner Verfassung, die 1995 per Volksabstimmung angenommen wurde“, sagte Nicola Rothermel, Sprecherin von Innensenator Ehrhart Körting (SPD). Es wäre aber „gut gewesen, hätte man im Text auf die West- und Ost-Berliner Verfassung Bezug genommen“, sagte der Berliner Verfassungsrechtler an der Freien Universität Berlin, Christian Pestalozza. Denn es gab in Berlin nach der Wende zwei Landesverfassungen, wenn auch nur für kurze Zeit.

Nach der politischen und administrativen Spaltung Berlins im Jahr 1948 beschloss die Stadtverordnetenversammlung im Westteil der Stadt am 4. August 1950 die Verfassung von Berlin. Sie trat am 1. Oktober 1950 in Kraft, galt aber nur in West-Berlin. Für Ost-Berlin wurde nach der Teilung der Stadt die 1949 in Kraft getretene DDR-Verfassung nicht offiziell übernommen, trotzdem wurde der Ostteil in das Rechtssystem der DDR eingebunden.

Nach der Wende erhielt im Juli 1990 Ost-Berlin als erstes Land der DDR per Volkskammerbeschluss eine rechtswirksame Verfassung. Dabei handelte es sich um eine Übergangsverfassung, die zuvor im Juli von der Ost-Berliner Stadtverordnetenversammlung verabschiedet worden war. Im Roten Rathaus unterschrieben damals Präsidiumsmitglieder der Stadtverordnetenversammlung und Oberbürgermeister Tino Schwierzina die vom Stadtparlament beschlossene Verfassung. Doch nur ein halbes Jahr später wurde sie wieder außer Kraft gesetzt: bei der konstituierenden Sitzung des ersten Gesamtberliner Landesparlaments am 11. Januar 1991. Die Abgeordneten stimmten für eine modifizierte Variante der West-Berliner Verfassung für den neuen Stadtstaat Berlin, die Ost- und West-Berliner Abgeordnete im Einheitsausschuss erarbeitet hatten. Mit dem Beschluss war der Auftrag verbunden, die Landesverfassung zu überarbeiten.

Drei Jahre lang arbeitete eine Enquetekommission des Abgeordnetenhauses an dem Entwurf. Am 22. Oktober 1995 stimmten die Berliner mit 75,1 Prozent in einer Volksabstimmung für die neue Verfassung . Die damalige Präsidentin des Abgeordnetenhauses Hanna-Renate Laurien und der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) unterzeichneten damals die Ausfertigungsurkunde. Eine der wichtigsten Neuerungen war die Einführung „plebiszitärer Elemente“, durch die nicht mehr nur das Parlament, sondern die Bürger selbst Gesetze beschließen oder ändern können. 2006 wurden in einer Volksabstimmung die Hürden für Volksbegehren und -entscheide gesenkt.

Was Müntefering jetzt kritisiert, ist so neu nicht: Sein Parteikollege, der Theologe und Publizist Richard Schröder, hatte 1995 in seiner Festrede zur Berliner Verfassung angemerkt, es wäre gut gewesen, wenn auch in Gesamtdeutschland das überarbeitete Grundgesetz per Volksabstimmung in Kraft gesetzt worden wäre.

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