zum Hauptinhalt

Berlin: Laute Nacht: Eine Kirchenfamilie verabschiedet sich

Er liebte die Orgel, sie kümmerte sich um alles Nun verlassen Fischers die Bartholomäus-Gemeinde

Nur eine Suppe wird heute Mittag bei den Fischers auf dem Tisch stehen. Der Weihnachtstag ist kulinarisch keine große Sache für das Ehepaar, gegen 14 Uhr muss es los – um 15 Uhr beginnt in der evangelischen St.-Bartholomäus-Kirche in Friedrichshain das Krippenspiel, um 17 Uhr die Heiligabend-Christnacht.

Für die Fischers aus der Bötzowstraße im benachbarten Prenzlauer Berg ist es der letzte Heiligabend, den sie in dem über 150 Jahre altem Gotteshaus sozusagen beruflich betreuen: Wolfgang Fischer als Kantor, seine Frau Dorrit als Küsterin. Im kommenden Jahr wird der Kirchenmusiker 75 Jahre alt – Anlass für ihn, sich endgültig ins Privatleben zurückzuziehen.

Offiziell verabschiedet wurde das Ehepaar schon am dritten Advent in „ihrer“ Kirche – mit festlicher Musik und feierlichen Reden, mit Blumen und einem kleinen Empfang nach dem Gottesdienst. Wie dieser künftig ohne die Fischers ablaufen soll, weiß Pfarrer Joachim Goertz dabei noch nicht. In der Kollekte am ersten Advent sammelte die Gemeinde schon mal vorsorglich für ihre künftige Kirchenmusik – die bekam sie bisher von ihrem Kantor fast zehn Jahre ebenso umsonst wie die von der Küsterin stets picobello zum Gottesdienst vorbereitete Kirche.

1997 wurde Wolfgang Fischer in Rente geschickt, und die Bartholomäus-Gemeinde hatte keine Aussicht, seine Stelle neu zu besetzen. „Und da ich keine Lust hatte aufzuhören, habe ich gesagt: Okay, dann mach ich das umsonst weiter“, erzählte der leidenschaftliche Kirchenmusiker. 1953 war der ehemalige Kruzianer – von 1942 bis 1949 sang der gebürtige Dresdner im Kreuzchor – nach Berlin gekommen, um hier Kirchenmusik zu studieren. Dabei lernte er seine künftige Frau Dorrit kennen, eine Theologiestudentin. Wie ihr Mann entstammte sie einem Pfarrershaushalt – die Familie hatte es 1945 aus dem Baltikum nach Mecklenburg verschlagen.

Als das junge Paar 1958 in Brandenburg heiratete, war Wolfgang Fischer dort schon ein Jahr lang Domkantor und Dozent am Predigerseminar und mit 350 DDR-Mark nicht allzu wohlbestallt, denn die Familie wuchs schnell. Vier Kinder – heute 38, 42, 44 und 46 Jahre – galt es sattzubekommen. Es war immer eine Kunst, sie Weihnachten zu beschenken, erinnerte sich Dorrit Fischer in dieser Woche an die Mühe, „für wenig Geld etwas zu finden, was auch originell ist.“ Sie muss es immer geschafft haben – „es hat sich nie ein Kind beschwert.“

Auch nicht darüber, dass privat Heiligabend zum Feiern eigentlich nie viel Zeit war. So wie heute Abend – gegen 20 Uhr werden Fischers wieder daheim sein. Zwölf Minuten laufen sie von der Kirche gegenüber dem Eingang zum Märchenbrunnen im Volkspark Friedrichshain bis zu ihrer Wohnung in der Bötzowstraße, die sich im Lauf von 30 Jahren mit Büchern, Noten und einer kleinen Orgel füllte. Jetzt zu Weihnachten auch mit der großen Pyramide aus dem Erzgebirge. Einen Baum stellen sie schon lange nicht mehr auf, seitdem die Kinder aus dem Haus sind. Die älteste Tochter trat übrigens in die Fußstapfen des Vaters – sie ist Kantorin in Köpenick.

In die Bötzowstraße zog die Familie 1976 ein. Zwei Jahre hatte die Wohnungssuche damals gedauert – der Vater arbeitete seit 1974 in Berlin als Referent für Kirchenmusik und Gottesdienste. Das blieb Wolfgang Fischer auch weiter, als die hauptberufliche Stelle als Kantor in St. Bartholomäus frei wurde.

Als der Nachwuchs aus dem Gröbsten raus war, ging auch Ehefrau Dorrit arbeiten. Zwölf Jahre war die Theologin bis 1989 als Lektorin in einem Bibelverlag der DDR tätig, lehrte bis zur Wende das Neue Testament im Fernunterricht und ging 1994 nach zweijähriger Arbeit bei Angela Merkel im Familienministerium in Rente. Ehrenamtlich hat sie bis zum heutigen Tag gearbeitet – allein 21 Jahre im Gemeindekirchenrat.

Ein bisschen wehmütig wird es der bald sechsfachen Großmutter da sicher ums Herz, wenn heute ihr Mann zu Heiligabend nochmals das in der St.-Bartholomäus-Kirche anbietet, was er selbst sein schönstes Geschenk für andere nennt – Musik. Seine alljährliche „Orgelmusik im Sommer“ – von Pfingsten bis Ende September an jedem Mittwoch um 18 Uhr – war so ein Geschenk. „Das hat großen Spaß gemacht“, sagte rückblickend Wolfgang Fischer und bezeichnete sein Leben „reich an Glücksfällen“. Einer davon war ihm seine Tätigkeit als Geschäftsführer der Kommission, die 1978 bis 1993 das Evangelische Gesangbuch überarbeitete, dessen neue Fassung die erste gesamtdeutsche überhaupt wurde.

Sein Lieblingslied von Paul Gerhardt steht auch darin. Heute Abend wird er es an der Schuke-Orgel intonieren: „Fröhlich soll mein Herze springen“ – für Wolfgang Fischer ein ebensolches Muss zu Weihnachten wie für viele heute der Besuch der St.-Bartholomäus-Kirche.

Dass die traditionell wieder nur heute rappelvoll sein wird, bedauerte der scheidende Kantor schon vorher – auch dass es keine Singfreude mehr gibt. „O du Fröhliche“ und „Stille Nacht“ gingen ja gerade noch so, und „Es ist ein Ros’ entsprungen“ kenne man von den Weihnachtsmärkten, aber bei „Fröhlich soll mein Herze springen“ höre es schon auf. Dabei sei es wie kein Lied geeignet, dass auch nach Weihnachten nicht gleich wieder „alle die Flügel hängen lassen“ – sprich, einen Bogen um die Kirche machen.

Heidemarie Mazuhn

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false