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Berlin: Leben unter dem Pulverfass

In einem Wohnhaus lagerten Chemikalien und Waffen. Erst als Säure durch die Decke tropfte, merkten die Mieter das

Die Pause, die sie in der Nacht gemacht haben, war nur kurz. Seit sieben Uhr morgens waren Polizeitechniker und Feuerwerker schon wieder in der Gitschiner Straße 92 in Kreuzberg. Wieder mit Schutzkleidung, aber diesmal ohne die Angst, dass noch etwas Schlimmes passiert, das Haus explodiert oder wenigstens der Dachboden. Dort oben in dem heruntergekommenen Gebäude lagerten ätzende Chemikalien, militärisches Gerät und Sprengstoff. Versteckt unter dem hölzernen Fußboden des Dachbodens. Einen Hinweis auf den Sammler gibt es nicht.

Der 30-jährige Pole Robert S., der im obersten Stock wohnt, war der erste, der von der gefährlichen Sammlung etwas mitbekommt. Es war am Dienstag gegen 15 Uhr, da brennt ihm plötzlich die Kopfhaut. Und dann ist da auf der Jogginghose seiner Freundin ein Fleck. Im Bad wäscht S. die Hose durch und auch seine kurzen Haare spült er aus. Als er wieder ins Schlafzimmer zurückkommt, sieht er kleine Tropfen an der Decke. Außerdem hat sich die Hand, mit der er Hose und Haare berührt hat, gelb-orange verfärbt. Als nach einer Stunde der Fleck an der Decke größer wird, ruft S. die Hausverwaltung an. Und als die sich nicht meldet, holt der Musiker die Feuerwehr.

Die kontrolliert den Dachboden und sieht erst mal nichts: „Penibel aufgeräumt“ sei der Dachboden, heißt es im Einsatzbericht. Denn die Gefahrenstoffe sind unter den hölzernen Dielen versteckt. Zwischen den tragenden Holzbalken des alten Hauses sind etwa 30 Zentimeter Platz. Früher wurden diese Lücken mit Bauschutt zur Lärm- und Wärmedämmung gefüllt. Als die Feuerwehr das explosive Lager entdeckt, kommen die Sprengstoff- und Giftexperten des Landeskriminalamtes und der Feuerwehr in die Gitschiner Straße. Gemessen wird eine hohe Konzentration von Nitrosegas, Chlor und Ammoniak. Besonders Nitrosegas, das unter anderem bei der Herstellung von Salpetersäure entsteht, gilt als sehr gefährlich, weil es zu schweren Lungenschäden führt.

Alle 50 Mieter müssen das Haus verlassen, um 19.45 Uhr entscheidet der Einsatzleiter der Polizei sogar, dass die U-Bahn, die an dieser Stelle als Hochbahn fährt, eingestellt wird – Explosionsgefahr. 80 Polizisten und Feuerwehrleute sichern das Haus und beginnen mit der Bergung. Erst um 22.30 Uhr darf die U-Bahn wieder fahren, die 40 Feuerwehrleute verlassen den Altbau erst nach zwei Uhr früh. Die Mieter durften gegen Mitternacht in ihre Wohnungen zurück im Vorderhaus und den beiden Hinterhäusern – und fragen sich seitdem, wer die Sachen (siehe Kasten rechts) dort oben gehortet hat. Und seit wann. Die PTU geht von einer „längeren Lagerzeit“ aus, auf eine Jahreszahl wollen sich die Polizeitechniker nicht festlegen.

Einen Verdacht auf einen bestimmten Mieter hat keiner im Haus. Auch Robert S., der seit vier Jahren dort wohnt, hat über sich nichts gehört oder beobachtet. Nur ein kleiner Fleck an der Schlafzimmerdecke sei ihm vor einem Jahr aufgefallen. Aber das hätte in dem alten Haus auch ein Wasser-, Schimmel- oder Stockfleck sein können. Ein Mann erzählt, dass eine alte Mieterin, die seit Jahrzehnten im Haus wohnt, schon früher beim Spielen als Kind auf dem Boden Patronenhülsen gefunden hätten. Gerüchteweise heißt es, früher habe eine Reichskriegsflagge den Dachboden geziert. Doch Rechtsextremisten dürften sich in der Gitschiner Straße 92 kaum zu Hause fühlen – im Durchgang hängen Plakate von allen linken Mai-Demos seit 15 Jahren, überall im Haus sind linke Parolen an die Wand gemalt.

Der Dachboden werde nur genutzt, um aufs Dach zu klettern, sagte ein Mieter im zweiten Hinterhaus „wie das in Kreuzberg so üblich ist“. Der Raum sei leer, einige Mieter hätten einen Schlüssel. Die wurden gestern von der Kripo befragt. Da Explosivstoffe gefunden wurden, ermittelt auch der für politische Taten zuständige Staatsschutz der Polizei. Bislang liegen jedoch keine Anhaltspunkte auf eine geplante politisch motivierte Straftat vor.

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