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Berlin: Lebenslang für einen Bahn-Freund

Berliner Landgericht, Saal 618. Die Wintersonne wirft kräftige Strahlen in den Raum.

Berliner Landgericht, Saal 618. Die Wintersonne wirft kräftige Strahlen in den Raum. Der Mann auf der Anklagebank starrt ungläubig zum Fenster, zieht die Ärmel seines schwarzen Hemds glatt und fährt sich mit der Hand durchs graue Haar. Er lächelt und schüttelt schließlich den Kopf. Gerade hat ihn das Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt. Klaus-Peter S., der 1998 vier Erpresserbriefe mit dem Absender "Freunde der Eisenbahn" an die Bahn schickte, will es nicht glauben.

Wenige Meter entfernt sitzt der Vorsitzende Richter Achim Sachs und erklärt in klaren Sätzen, warum der 47-jährige Klaus-Peter S. damit rechnen muss, einen großen Teil seines restlichen Lebens hinter Gittern zu verbringen. "Er handelte mit immenser krimineller Energie", sagt der Richter und nennt die Motive: Eigennutz, Ich-Bezogenheit, Habgier. Für das Gericht steht fest: Der Mann war bereit, über Leichen zu gehen, als er zwei Anschläge auf Bahnstrecken verübte.

Die Erinnerung daran ist noch wach. Tat Nummer eins ereignet sich in der Nacht zum 8. Dezember 1998 nahe Stendal an der ICE-Strecke Hannover-Berlin. Klaus-Peter S. fährt mit einer ganzen Ladung Spezialwerkzeug im Kofferraum zum Tatort, löst Dutzende von Schrauben und verbiegt die Schienenenden. Der ICE passiert die beschädigte Stelle am Morgen des 8. Dezember, ohne zu entgleisen. "Reines Glück" für die 300 Fahrgäste, wird ein Gutachter von der Technischen Universität Berlin später sagen. Für den Täter selbstverständlich ist es Pech. Er wird von Geldsorgen geplagt und will zehn Millionen Mark erpressen. Zehn Tage später, am 18. Dezember, schraubt und biegt er an den Gleisen zwischen Stralsund und Berlin, in der Nähe von Anklam. Ein Güterzug entgleist, die Wagen springen aus den Schienen, fallen um, rutschen über das Gelände, verkeilen sich ineinander. Dem Lokführer passiert nichts: Die Lokomotive und die vier ersten Wagen bleiben auf den Schienen. Der Bahner löst Alarm aus und verhindert auf diese Weise eine Katastrophe: Der Malmö-Express mit zahlreichen Reisenden an Bord kann gestoppt werden, bevor er die Unglücksstelle erreicht.

Der Richter macht eine Pause und blickt prüfend zum Angeklagten. Könnte es sein, dass Klaus-Peter S. nach vier Monaten Verhandlung doch noch ein Zeichen von Reue zeigt? Doch da ist nichts, und darin liegt sogar eine gewisse Konsequenz. Denn das Gericht hat festgestellt: Das Interesse des früheren Gleisbauers und Kleinunternehmers an der Realität ist Zeit seines Lebens deutlich begrenzt geblieben. Auf die Frage, ob er außer sich selbst überhaupt etwas wahrnehmen könne, hat das Gericht keine klare Antwort gefunden.

Dabei hat der Mann eine Menge Fantasie bewiesen. Mit dem Absender "Freunde der Eisenbahn" legte er eine falsche Fährte: Die Ermittler vom Bundeskriminalamt sollten glauben, es handele sich um eine Bande entlassener Bahn-Mitabeiter auf Rachefeldzug. Je nach Ermittlungsstand erfand er neue Versionen, behauptete, er habe Komplizen in halb Osteuropa, bezichtigte Ehefrau, Freunde und Bekannte der Mittäterschaft.

Am Ende aber hat Klaus-Peter S. gestanden, dass er die Taten allein verübt hatte. Vielleicht war der Herzkranke am Schluss des Verfahrens einfach zu schwach, um weiter ein Fantasiegebäude nach dem anderen aufzubauen. In der Stunde des Geständnisses war Klaus-Peter S. ganz anders zu erleben, als man ihn bisher kannte. Bei seiner Festnahme am 28. Dezember 1998 an der Raststätte Irschenberg in Bayern hatte er der Polizei noch gedroht, seine Komplizen würden nun Bomben in Nürnberg, Frankfurt und Hamburg hochgehen lassen. In diesem Fall war es ein Glück, dass es eine Lüge war.

Michael Brunner

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