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Berlin: Leerlauf im Szene-Bezirk

Neuberliner verlassen zu Weihnachten in Scharen die Stadt. Alteingesessene bleiben zurück – und feixen

Die Fensterläden sind heruntergelassen, Tische und Stühle vor dem schicken Eckcafé an der Kastanienallee in Mitte zusammengeschoben. An der Glastür zu dem Laden, den seine Besucher „103“ nennen, hängt ein weißer Zettel: „Liebe Gäste, Ihr fahrt ja alle nach Hause zum Gänsebratenessen und deswegen machen wir vom 21.12. bis 26.12. zu. Frohes Fest. Euer 103.“ Die für ihr eigenwillig buntes Treiben bekannte Kastanienallee ist an diesem Vormittag fast menschenleer. Kurz vor Weihnachten verlassen die Zugezogenen die Stadt.

„Es ist tatsächlich so, dass Mitte und Prenzlauer Berg dann ziemlich leer sind. Das beginnt etwa zwei Tage vor Heiligabend“, sagt Till Harter, der Betreiber des „103“. Der alljährlich wiederkehrende Berlin-Exodus sei in den angesagten Bezirken im Ostteil der Stadt besonders ausgeprägt, weil sich viele Neuankömmlinge aus den alten Bundesländern hier vorzugsweise niederlassen. „In Kreuzberg sieht man das nicht so stark“, sagt Harter. Er nutzt die Feiertage, um sein Café renovieren zu lassen.

Die Ruhe, die an Weihnachten in Berlin eintritt, kommt einigen Einheimischen sehr gelegen. Schon im vergangenen Jahr haben unbekannte Lokalpatrioten in der Gegend rund um den Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg Plakate geklebt. Darauf abgebildet war ein Foto der leeren Sredzkistraße, die ansonsten von Autos verstopft ist. Darunter bedankten sich die Plakatgestalter für die vielen freien Parkplätze: „Ostberlin sagt Danke an: Stuttgart, Erlangen, Tübingen usw.“ Schwabenhatz am Kollwitzplatz.

In diesem Jahr führen die Plakatdesigner ihre Kampagne gegen die Verschwabisierung des Ostteils fort, kleben erneut Poster und drucken Postkarten, auf denen der Fahrplan der Deutschen Bahn für ausgewählte Reiseziele wie Hannover, München oder Koblenz gezeigt wird. Auf der Rückseite ein Reisegruß: „Ostberlin wünscht gute Heimfahrt!“ Die Postkarten liegen in den Cafés rund um den Kollwitzplatz und an der Kastanienallee aus, auch auf den Stufen zum „103“. Die Plakate mit den Kilometerangaben zu Städten im Westen der Republik zieren Stromkästen und Litfaßsäulen.

Die meisten der wenigen Passanten, die am Freitagvormittag über die Kastanienallee laufen, empfinden die Aktion als „charmanten Gag“. Eine Frau, die auf dem holprigen Kopfsteinpflaster einen Trolley hinter sich herzieht, sagt, sie fände den diskreten Aufruf zur Ausreise witzig. Sie selbst lebt seit 2002 in Berlin, arbeitet hier als Werbetexterin und fährt zu Weihnachten jedes Jahr heim nach München – „zur Familie“.

Es sind viele, die an diesem Vormittag zu ihren Familien fahren. Der Hauptbahnhof jedenfalls ist voller Menschen, die Bahnsteige sind überfüllt. An Gleis 13, von dem aus die Züge Richtung Nordrheinwestfalen oder Süddeutschland fahren, drängeln sich kurz vor 12 Uhr Hunderte junger Menschen. Die meisten von ihnen fahren „nach Hause“, wie eine spontane Umfrage ergibt. Um den Andrang zu bewältigen, setzt die Deutsche Bahn im Fernverkehr seit Freitag 25 zusätzliche Züge ein.

Die Ruhe, über die sich die missionarisch ambitionierten Lokalpatrioten freuen, wird allerdings nur von kurzer Dauer sein. Zu Silvester ist Berlin ein beliebter Ort zum Reinfeiern ins neue Jahr. Dann steigt die Zahl der Touristen, die etwa das Show-Spektakel am Brandenburger Tor erleben wollen, zu dem sich unter anderem Pop-Bands wie die Sissor Sisters oder die Sugababes angesagt haben. Auch die Neuberliner kehren zurück und bevölkern dann wieder Mitte und Prenzlauer Berg.

Diese Beobachtung hat auch „103“-Betreiber Till Harter gemacht. „Die meisten bringen ihre Freunde mit, um gemeinsam Silvester zu feiern.“ Anfang der 90er Jahre kam Harter selbst aus der westdeutschen Provinz nach Berlin, zog in die Kastanienallee. Seither hat er an verschiedenen Orten im Ostteil der Stadt Clubs betrieben, der neueste an der Falckensteinstraße in Kreuzberg ist sein erster Standort im Westen. Ob er sich von der plakativen Ausweisung angesprochen fühlt? „Ich finde das einfach nur lustig“, sagt Harter. Nach Hause fährt er über die Feiertage schon längst nicht mehr.

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