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Berlin: Legasthenie: Eltern beklagen den Mangel an Regelungen für ihre Kinder

Am Anfang bemerkte Christel Hanke nur, dass ihr Sohn irgendwie auffällig war. Er bewegte sich seltsam, konnte nicht richtig sprechen, aber auch nicht richtig schreiben.

Am Anfang bemerkte Christel Hanke nur, dass ihr Sohn irgendwie auffällig war. Er bewegte sich seltsam, konnte nicht richtig sprechen, aber auch nicht richtig schreiben. Sie schleppte den Jungen vom Klassenlehrer zum Schulpsychologen, zum Logopäden und zum Ergotherapeuten - und wieder zurück. Seine Feinmotorik wurde trainiert, seine Sprache; schließlich ging er auch noch zum orthopädischen Schwimmen. "Schon in der Grundschule war der Junge rundum therapiert", erinnert sich Christel Hanke, "nur was wirklich mit ihm los ist, wusste immer noch keiner." Erst am Ende der 4. Klasse beschäftigte sich seine neue Lehrerin einmal genauer mit dem Schüler. Kurze Zeit später wurde ihm in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Humboldt-Universität eine "Teilleistungsstörung" diagnostiziert.

Christel Hankes Sohn ist Legastheniker. Und zwar einer, dessen Legasthenie lange nicht als solche auffiel - weil er nämlich auf der anderen Seite aufgrund seiner hohen Intelligenz viele Dinge sehr viel schneller lernte als seine Klassenkameraden. "In der Öffentlichkeit wird Legasthenie immer noch gerne mit Nicht-Schreiben-Können oder mangelnder Intelligenz assoziiert", sagt Hanke, "dabei kann die Störung sich völlig verschieden präsentieren."

So gibt es auch Legastheniker, die nicht einmal das klassische "Buchstabendreher-Syndrom" kennen. Legasthenie kann nämlich auch bedeuten: Die zentrale Hörverarbeitung ist gestört, das räumliche Hören, das visuelle Blickfeld oder das räumliche Vorstellungsvermögen. "Das, was den Eltern auffällt, ist oft nicht mehr, als dass ihr Kind irgendwie komisch ist", sagt Hanke, die auch Vorsitzende des Berliner Landesverbandes Legasthenie ist.

Darin allerdings liegt ein zentrales Problem - denn auch die Lehrer wissen oft nicht weiter. "Dass Lehrer eine Legasthenie erkennen, ist die absolute Ausnahme", sagt Hanke, "und selbst die Schulpsychologen wissen oft nicht, was los ist". Das Resultat: Die Kinder bekommen keine spezielle Förderung, werden genau wie alle anderen benotet und verlieren zunehmend die Lust am Unterricht, obwohl viele Legastheniker überdurchschnittlich intelligent sind. Dabei kann eine spezielle Förderung durchaus über das Kinder- und Jugendhilfegesetz finanziert werden. In der Praxis werden viele Kinder auf Kosten der Eltern außerschulisch gefördert.

Die Eltern beklagen aber auch den Mangel an Regelungen für ihre Kinder. "Berlin ist wie ein luftleerer Raum", sagt Evelyne Tais, Mutter zweier Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwäche. Anders als in Bundesländern wie Mecklenburg-Vorpommern, Bayern oder Schleswig-Holstein gibt es hier keinen Legasthenie-Erlass. Dieser regelt beispielsweise die spezielle Förderung der Kinder, die Verteilung von Informationsmaterial für die Lehrer oder den Verzicht auf Benotung.

In Berlin kann lediglich in der Grundschule auf Antrag auf eine Benotung der Rechtschreibung verzichtet werden. Jetzt fürchten die Eltern vor allem das anstehende neue Berliner Schulgesetz: "Wenn schriftliche Prüfungen in Deutsch, Mathe und Englisch für einen Schulabschluss Pflicht werden, haben unsere Kinder überhaupt keine Chance", sagt Christel Hanke.

Doch auch in der Schulverwaltung beginnt man offenbar, sich des Problems bewusst zu werden. Zu Beginn des Jahres wurde dort eine "Arbeitsgruppe Legasthenie" gegründet. "Wir überprüfen, ob es auch in der Oberschule einen eigenen Regelungsbedarf für legasthene Kinder gibt", erklärt eine Mitarbeiterin der AG. Für die Grundschulzeit wiederum hält man die bestehende Grundschulordnung mit der Möglichkeit, auf Zensuren zu verzichten, für ausreichend. Auch verweist man in der Schulverwaltung auf die Kehrseite des Verzichts auf Zensuren: "Die Grenzen sind da oft fließend. Denn was motiviert einen Schüler, der keine Zensuren bekommt, seine Lese- und Rechtschreibschwäche zu überwinden?"

Jeannette Goddar

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