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Berlin: Leiden am Lietzensee

TV-Moderator Ulrich Meyer sagt, man habe nur die Wahl: Laufen oder am Leben teilnehmen. Manchmal quält er sich in den Park – und sei es nur, um in ein Kaninchenloch zu treten

Georgia ist schuld. Georgia ist meine Frau und findet, dass Männer in fortgeschrittenem Alter regelmäßig Sport treiben sollen. Georgia ist außerdem Frühaufsteherin. Um halb sieben rüttelt sie an mir herum und will laufen gehen. Ich will schlafen. Ich schütze Verletzungen vor. Manchmal laufe ich trotzdem los, aber etwas später. Georgia ist dann schon fast fertig. Ich laufe praktisch, um Georgia vom Laufen abzuholen.

Joggen ist ohnehin eine unpraktische Angelegenheit. Nie habe ich Zeit dafür. Oder ich habe gerade gegessen. Oder Hunger. Oder Knieprobleme. Oder Angst vor Knieproblemen. Die Zeit vor dem Joggen ist von Schmerzerwartung geprägt. Man denkt tagelang nichts anderes als: „Los! Laufen gehen! Gestern warst du schon nicht. Und vorgestern auch nicht.“ Die Zeit nach dem Joggen existiert nicht. Nie denke ich: „Mann, prima, dass ich gestern gelaufen bin.“ Ich denke immer: „Ich müsste mal wieder laufen.“ Und was passiert, wenn ich dann loslaufe? Ich trete in ein Kaninchenloch.

Ich gebe zu, ich hatte eine Zeit, in der ich das Laufen akribischer betrieb, Kurse belegte und Lauf-Ferien machte, in Österreich zum Beispiel. Und es hat sich sogar gelohnt. Dieser polnische Trainer, der eine Armeekarriere hinter sich hatte, sagte damals zu mir: „Dreh deine Füße beim Laufen ein paar Millimeter nach innen.“ Auf einen Schlag waren meine Knieprobleme weg. Schade eigentlich: eine Ausrede weniger. Es begann die Zeit, in der ich sechs Mal die Woche lief. Aber auf die Dauer geht nur eines: entweder laufen oder am Leben teilnehmen.

Das Laufen verfolgte mich von klein auf. Ich erinnere mich an Franz-Josef Kemper, den Mittelstreckler von Preußen Münster. Es war auch die Zeit von Harald Norpoth, spätes Mittelalter etwa. Kemper hatte auf der 800-Meter-Strecke im Stadtpark von Köln-Mülheim, meiner Heimat, eine phänomenale Zeit hingelegt. Kemper war unser Idol. Er hatte einen kerzengeraden Laufstil, so, als ob er einen Stock im Rücken trug. Und die Knie hatte er völlig durchgedrückt. Wir haben versucht, diese Haltung zu imitieren oder an seine Rekordzeit heranzukommen. Keine Chance. Aber es war eine gute Vorbereitung für die Gebirgsjäger. Dort ging es 30 Kilometer am Tag mit 35 Kilogramm Gepäck. Da erfuhr ich: Es gibt eine Schwelle unterhalb des Joggens, die auch schon sehr weh tun kann.

Jetzt mal eine Frage an die Genforscher: Wie kann es sein, dass mein Bruder so viel kerniger ist als ich? Er zieht seinen Arztkittel aus, steigt in die Laufschuhe und wetzt dann los, stundenlang. Er läuft auch Marathon. Wenn der liebe Gott gewollt hätte, dass die Menschen Marathon laufen, dann wäre der Erste über die Strecke nicht im Ziel gestorben. Mein Bruder hat überlebt, in vier Stunden und acht Minuten. Er konnte sich wochenlang über diese acht Minuten aufregen. Jetzt tüftelt er, um diese acht Minuten zu killen. Eine Zeit unter vier Stunden, die ist wichtig. Unvorstellbar, womit sich erwachsene Menschen befassen.

Wenn ich es dann doch mal geschafft habe, mich aufzuraffen, in guten Wochen sogar mehrmals, dann zockele ich um den Lietzensee, ganz entspannt. Gelegentlich habe ich gute Gedanken. Wie man einen krähensicheren Mülleimer entwerfen könnte zum Beispiel. Oder ich betrachte das Schwanenpaar, das jedes Jahr eine Hand voll Junge großzieht. Dann vergesse ich manchmal sogar, dass ich laufe.

Es sind die besten Momente.

Letzte Folgeam kommenden Mittwoch. Der Tipp von Marathonläuferin Tegla Loroupe: die Hasenheide.

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