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Berlin: Lektion in Völkerverständigung Ein Berliner lud Angehörige eines polnischen Zwangsarbeiters zur Grabstätte – und in eine Schule

„Agata hat mir eben erst erzählt, dass ihr Opa auch Zwangsarbeiter in Deutschland war. Und hat sie deshalb Hass auf die Deutschen?

„Agata hat mir eben erst erzählt, dass ihr Opa auch Zwangsarbeiter in Deutschland war. Und hat sie deshalb Hass auf die Deutschen?“ Klaus Leutner, Berliner Gastgeber der Besuchergruppe, schiebt die junge Polin nach vorne, sie bleibt etwas verschüchtert stehen. Einige Sekunden sagt niemand etwas. Dann tut ein Herr mit elegantem schwarzen Anzug etwas völlig Unerwartetes: Wojciech Brzeski, Bürgermeister von Glowno, schiebt Agata mit Daumen und Mittelfinger die Mundwinkel nach oben. Die ganze Friedhofsgesellschaft beginnt zu lachen . Der SPD-Vorsitzende von Lichtenberg und der polnische Priester, die Berliner Schüler, die polnischen Gäste, ja sogar die 82-jährige Schwägerin des hier Beerdigten - die Anspannung ist von allen abgefallen.

Agata Chabera-Mlynarczyk, Deutschlehrerin aus Glowno, und die anderen Gäste stehen um einen Grabstein auf dem St.-Hedwigs-Friedhof an der Konrad-Wolf-Straße 31/32 in Lichtenberg. Einer von 430, die polnische und deutsche Soldaten erst vor einem Jahr nach öffentlichem Protest gemeinsam errichtet haben. Jahrzehntelang war das Gräberfeld zugewuchert. Neben drei anderen Namen ist hier Tadeusz Luczak eingemeißelt. Stellvertretend für 2000 beerdigte Zwangsarbeiter wollen die Polen und Deutschen seiner gedenken.

Ohne Leutner, Jahrgang 1940, stünden sie nicht hier. Früher war er Abteilungsleiter des Bahnhofs Zoo, heute schützt er Menschen vor dem Vergessen: Er hat mit seinem Verein ein KZ-Außenlager in Lichterfelde erforscht. Die heutige Generation solle erleben, „was es heißt, keine Rechte zu haben.“ Dann hätten junge Leute eine eigene Meinung, und wüssten Bescheid, wenn der Lehrer sagt: „Nicht NPD wählen!“ Leutners Frau Alina ist Polin, er wurde als Junge aus Königsberg vertrieben, „das jetzt Kaliningrad heißt“.

Tausende von Zwangsarbeitern wurden in Berlin in Massengräbern verscharrt. Menschen wie die Luczaks suchten ihr ganzes Leben nach ihnen. Leutner hat sie zufällig gefunden: weil der Vater seiner Frau auf demselben Friedhof in Glowno in der Mitte Polens liegt wie die Vorfahren der Luczaks. Alle außer einem. Tadeusz Luczak, dessen Namen hier eingemeißelt ist – wurde am 5.2.1916 in Glowno geboren und 1944 „in Berlin-Kaulsdorf zwischen den Gleisen 3 bei Kilometer 11,650 tot aufgefunden“, so seine Sterbeurkunde. „Schädelzertrümmerung“ gibt die Gerichtsmedizin als Todesursache an. Die Familie vermutet, dass er bei einer Sabotage-Aktion für den polnischen Untergrund umkam. Mit Sowjets und Polen, Holländern und Franzosen wurde Luczak beigesetzt.

Leutner will ihre Geschichte weitergeben. Deshalb sitzt schon vor dem Friedhofsbesuch Sofia Luczak, 82 Jahre alt, in der Manfred-von-Ardenne-Schule. „Pani Sofia“, wie sie genannt wird, ist die Frau von Zdzislaw, dem Bruder von Tadeusz. Dieser hatte sich damals gegen seinen jüngeren Bruder Zdzislaw eintauschen lassen, fuhr 1942 nach Deutschland – und rettete ihm so das Leben. Das hat Zdzislaw nie losgelassen: bis zu seinem Tod 2004 suchte er das Grab seines Bruders. Pani Sofia, die kleine Frau mit den sanften Augen, sagt, sie sei froh, dass sie noch erleben durfte, dass das Grab gefunden wurde. Und dass sie hoffe, dass aus der jungen Generation niemand im Krieg sterben wird. Dann spricht Pani Sofia immer wieder wie ein indisches Mantra: „Jest okropnie, jest okropnie.“ Es ist fürchterlich. Leutner dagegen gerät in Rage, wenn er vom Alltag der Besatzung erzählt: „Wie auf dem Viehmarkt,“ ruft er und zupft eine deutsche Schülerin an den Haaren, um zu demonstrieren, wie entwürdigend die Deutschen die Polen behandelten. Erzählt von den Millionen Zwangsarbeitern und von der Willkür, mit der sie von der Straße geholt und ins Reich deportiert wurden. Die 17 und 18 Jahre alten Schüler blicken ob der Leidenschaft Leutners etwas ratlos. Bei der Fragerunde wird deutlich, dass selbst im Leistungskurs Geschichtedie Historie Polens zu kurz kommt. Ein Schüler sagt später, dass ihn zwar die Geschichte interessiere, aber dass er da ja nichts für kann.

Nach der Schulstunde sitzen die jungen Deutschen mit Ania, Marta, Agnieszka und Sebastian aus Glowno zusammen im Restaurant. Sie sind die „Vorhut“ eines Schüleraustausches, der hier begründet werden soll. Die Schüler unterhalten sich auf Englisch. Man hört das Wort „Waterpipe“ und dann Geflüster - Wasserpfeife-Rauchen ist in Polen streng verboten. Sie verabreden sich für den nächsten Abend in der Simon-Dach-Straße. Über Geschichte, sagt Sebastian, haben sie beim Essen nicht gesprochen.

„Aus dem Grab des Tadeusz Luczak geht die Brücke in die Zukunft“, sagt Leutner noch am Grabstein. Pani Sofia nickt und bekreuzigt sich. Es sind gute Worte, aber sie sind auch pathetisch. Vielleicht ist der Abend in der Simon-Dach-Straße jene Normalität, die früheren Generationen so schwer fällt. Moritz Gathmann

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