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Berlin: Lia Horwath (Geb. 1952)

Sie hockte ja mittendrin im Millieu der Welt- und Selbstveränderer

Von David Ensikat

Dass sie als Mädchen zur Welt gekommen war, dafür konnte sie ebenso wenig wie für die Ungerechtigkeit der Welt, soweit konnte ihr Vater sie beruhigen. Für ihren Platz als Frau in dieser ungerechten Welt war sie jedoch verantwortlich, das sollte ihr auch klar sein. Für einen guten Platz musste sie besser sein als die Männer. Folglich war des Vaters Blick auf ihre Hausarbeiten ein strengerer als der auf die des kleinen Bruders – eine Ungerechtigkeit dem Bruder gegenüber.

Es war nicht die Strenge der Eltern, vor der sie mit 19 aus Hannover nach Berlin floh, eher die sorgende Umarmung. Da war es ihr egal, dass sie die erste Zeit in einem feuchten Loch wohnte und sich ganz verloren vorkam an der riesigen FU, der die Autoritäten abhanden gekommen waren. Sie kam allein zurecht, das zählte. Schlimm genug, dass sie das Fach, das sie studierte, nicht selbst ausgesucht hatte, sondern der Empfehlung, Pädagogik, gefolgt war. Die Achtundsechziger waren angetreten, das Schulsystem umzukrempeln, da brauchte es Umkrempler, Fachleute für eine neue, gerechtere Schule. Als Lia mit dem Studium fertig war, waren aber die Umkrempelversuche stecken geblieben, und ihre Kenntnisse nutzten ihr nichts. Kein Job nirgends.

Also noch ein Studium, diesmal eins nach ihrem Wunsch. Psychologie. Dabei war sie keine von denen, die auf diesem Weg ihren eigenen Neurosen auf die Spur kommen wollen. Es trieb sie ein ehrliches Interesse an den Menschen und, ausgesprochen zeitgemäß, die Einsicht, dass die großen Versuche, die Gesellschaft zu verändern, zu ehrgeizig gewesen sein könnten, zumal eine einzige Seele bereits so komplex ist, dass schon viel gewonnen ist, wenn man nur einen Knacks behandeln kann.

Sie hockte ja mittendrin im Millieu der Welt- und Selbstveränderer, in diesen ewigen WG-Debatten, anstrengend und aufregend, wo alles, was man tat und sagte, in ein großes Ganzes eingebettet war. Allerdings waren ihre Kreise die gemäßigten. Da hatte es sich herumgesprochen, dass es in Maos China nicht so himmlisch zuging, wie man nach dem Studium der Mao-Bibel hätte meinen können. Da durfte sie sagen, dass sie es nicht okay fand, einem Bullen einen Stein an den Kopf zu schmeißen.

So vernünftig ihre Auffassungen waren, so zurückhaltend teilte sie sie mit. In kleinen Kreisen funktionierte das. In die größeren zog es sie ohnehin nicht. Als sie in den Achtzigern in der „Alternativen Liste“ mitmischte und man ihr einen Listenplatz fürs Abgeordnetenhaus anbot, sagte sie Nein. An ein Rednerpult wollte sie nie. Lia wusste, dass sie Auseinandersetzungen mit geifernden Alphamännern nicht gewachsen war. Feindbild: Heinrich Lummer, CDU-Innensenator, kleiner Mann mit viel zu großem Selbstbewusstsein.

Fritz lernte sie am Kaffeeautomaten an der Uni kennen. Auch er studierte Psychologie, auch er wollte im Sommer nach Griechenland, auch er hatte die Erfahrung gemacht, dass Promiskuität eine anstrengende Sache ist. Die beiden verhielten sich skandalös, bürgerlich, antiemanzipatorisch: Sie wurden ein Paar. Immerhin wohnten sie weiter in den WGs, ein jeder in seiner, in denen die Gesetze des Fortschritts noch an den Klotüren standen: „Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Fahrrad“, „Wer zweimal mit der selben pennt …“

Einen Schritt zu weit ging Fritz, als er sie fragte, ob sie ihn heiraten wolle. Das nun nicht. Sie bekamen eine Tochter, sie zogen zusammen, sie arbeiteten in ihren Therapeutenberufen, wie viel bürgerlicher und stabiler sollte es denn noch zugehen?

Wie instabil und launenhaft das Glück ist, lernte Lia bald. Sie war Mitte 30, als sie zum ersten Mal an Krebs erkrankte, und Ende 30, als der zweite Krebs kam. Die Behandlungen retteten ihr Leben, aber jahrelang konnte sie nicht richtig arbeiten. So konnte sie nicht genug Therapiestunden aufweisen und verlor durch die Formalien des neuen Psychotherapeutengesetzes ihre Kassenzulassung. Ein schwerer Schlag. Noch härter traf es sie, dass die Gerichte die Ungerechtigkeit bestätigten. Für die letzte Instanz, Verfassungsgericht, fehlte ihr das Geld.

Umso erleichterter war sie, als sie trotz allem wieder arbeiten konnte. Sie half nun Menschen, die für die Therapie ohne Krankenkasse aufkamen. Darunter Paare, die es schwer miteinander hatten, und denen sie gemeinsam mit Fritz gegenübersaß, ihrem Kollegen, Vater ihrer Tochter – und nun auch Ehemann. Nach dem zweiten Krebs hatte sie seinem Heiratswunsch doch nachgegeben.

Die gemeinsame Arbeit in den Paartherapien hat ihn beeindruckt. Wie aufmerksam Lia war, wie präzise ihre Beobachtungen! Sie ergänzten sich bestens. Und konnten nach der Arbeit gut essen gehen, denn privat abgerechnete Stunden sind für Therapeuten weit lukrativer als die von der Kasse bezahlten.

Gegen ihren dritten Krebs half nicht die Medizin, kein Glaube und kein Hokuspokus. Sie fragte Fritz, was sie nur falsch gemacht habe. Nichts. Gar nichts. Es war einfach Pech. Ungerechtigkeit. Die Gene.

Und dennoch: Als Fritz sie fragte sie, ob sie über das Sterben reden will, sagte sie: „Och nö, übers Sterben mach du dir mal Gedanken. Ich orientiere mich am Leben.“

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