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Berlin: Liebe auf den zweiten Blick

Der belgische Botschafter Lode Willems über Berlins „wunderbare Qualitäten“

„Mein allererster Eindruck von Berlin war gar nicht so positiv, das geht vielen Besuchern so, wenn sie nur kurz hier sind. Man denkt erst einmal: Die Stadt ist ja ziemlich zerstört, alles ist so chaotisch – und wo ist überhaupt das Zentrum? Besonders hässlich fand ich die Autos mitten auf der Straße des 17. Juni, die sieht wie ein Parkplatz aus. Aber wenn man hier wohnt, ändert sich das komplett, dann lernt man die ganzen wunderbaren Qualitäten kennen.

Dass die Stadt nicht so stressig ist, zum Beispiel. Neulich war unsere Außenministerin hier, die war ganz erstaunt: so wenige Leute, so wenig Verkehr! Und man hat die Häuser zwischen die Bäume gebaut, nicht andersrum. Überall ist es grün; unsere Residenz liegt in Westend, da sind wir in fünf Minuten an der Havel. Was ich auch sehr mag, sind die vielen Straßencafés, die Terrassen. Die Deutschen essen und trinken genauso gern draußen wie ich.

Oder die Musik, die liebe ich! Es ist so einfach in Berlin, klassische Musik auf sehr hohem Niveau zu hören, es gibt so viele Opernhäuser, die Tickets sind billiger und es ist auch viel einfacher, dort hin zu gelangen; in London ist das alles sehr stressig. Die Philharmoniker werde ich einmal sehr vermissen, die fantastischen Wagner-Aufführungen – das ist wie Shakespeare in Großbritannien, ich habe hier noch nie einen wirklich schlechten Wagner gehört. Musik scheint mir ein natürlicher Teil des Lebens zu sein.

Bei Veranstaltungen hört man ab und zu langweilige Reden; aber man ist so intelligent, dazwischen schöne Musik zu machen. So kann man damit leben. In Berlin habe ich auch Schumann lieben gelernt; jetzt schreibe ich einen Roman über ihn, die Hauptfigur ist ein Diplomat. Aber das kann dauern, zehn Jahre vielleicht. Wir organisieren jetzt auch ein Konzert mit Schumanns Musik in der Botschaft.

Ich komme immer früh ins Büro und gehe spät nach Hause. Da muss man die offiziellen Veranstaltungen gut selektieren, sonst verliert man sich. All die Botschaften, Ländervertretungen, Bundestag und Bundesrat, ich könnte jeden Abend fünf Veranstaltungen besuchen.

Berlin ist ja eigentlich nicht so groß, das heißt, es gibt so einen gesellschaftlichen Inner Circle, den sieht man überall – das hat man in größeren Städten wie London oder New York nicht. In den nächsten zwei Jahren will ich daher auch verstärkt versuchen, Kontakt zu anderen Kreisen, kulturellen und akademischen zu bekommen, und zu NGOs (non government organisations). Sonst wird das sehr inzestuös, das bringt nichts.

Ich habe auch bewusst Kontakt zu PDS-Politikern gesucht, zum Beispiel mit dem Bürgermeister von Marzahn-Hellersdorf bin ich jetzt befreundet. Ein unglaublicher Optimist, einmal hat er sich einen Tag Zeit genommen, um meiner Frau und mir alles zu zeigen, etwa, was man mit dem Plattenbau gemacht hat. Wenn wir Gäste haben, fahren wir manchmal in den Osten, die Karl-Marx-Allee runter und weiter. Die meisten Touristen haben da längst umgedreht.“

Aufgezeichnet von S. Kippenberger

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