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Berlin: Lieselotte Nitschke, geb. 1911

Ein Vorstadtmädchen, das blieb Lieselotte ihr Leben lang. Obwohl sie 65 Jahre in Berlin lebte - die Sehnsucht nach Strausberg war immer da.

Ein Vorstadtmädchen, das blieb Lieselotte ihr Leben lang. Obwohl sie 65 Jahre in Berlin lebte - die Sehnsucht nach Strausberg war immer da. Dort war sie als behütetes Mädchen aufgewachsen. Als braves, bescheidenes Mädchen. Als eine, die das Pferd führte, während die Brüder reiten durften. Pferd führen, Haushalt führen, Ehe führen. Das Funktionieren lernte Lieselotte in Strausberg und hinterfragte es nie. "Das Leben meiner Mutter, hmmm ...", sagt die Tochter. "Das war nicht so interessant."

Die Höhepunkte in Lieselottes Leben waren keine Feuerwerke, eher flackernde Teelichte - mal ins Theater, mal eine Schachtel Pralinen. Sie war eine, die man kaum wahrnahm, wenn man sie beim Bäcker traf. Geduldig stand sie in der Warteschlange und verlangte niemals, "lassen Sie mich bitte vor, ich habe es eilig". Lieselotte fügte sich den Umständen und vermisste Strausberg, wo das eine Tugend gewesen war.

Noch als alte Dame saß Lieselotte im Wohnzimmersessel und erzählte, dass über Strausberg immer die Sonne schien. Wenn sie damals heimkam, dann griff sie in der Küche in den Tontopf und klaubte ein Stück Stollen heraus oder einen Pfannkuchen. Im Sommer schwamm Lieselotte über den See zum Ausflugslokal und erbettelte ein Stück Kuchen, das sie auf dem Steg verschlang, bevor sie juchzend wieder ins Wasser sprang. Handarbeit mit Kaffeeklatsch und Tanzen im Alten Schützenhaus - so viel Zeit für sich sollte Lieselotte nie wieder haben. Strausberg stand fürs Leben, Berlin für die Pflicht.

Die Pflicht beginnt an einem Abend Mitte der dreißiger Jahre. Im Alten Schützenhaus fordert Ernst Nitschke, Vertreter für Farben und Chemikalien, die schüchterne Brünette mit den blauen Augen das erste Mal zum Tanz auf. Er mag sie, er braucht eine Ehefrau. Für Lieselotte ist es keine Liebe auf den ersten Blick. Denn abends im Bett denkt sie manchmal noch an den Sohn des Wirtes, denkt an einen verhuschten Kuss unterm Birnbaum. Nein, als Ehemann kommt so einer nicht in Frage, das weiß auch die vernünftige Lieselotte. So nimmt sie also den Ernst. Das Paar zieht nach Berlin.

Berlin in den Dreißigern. Da kann man schon Spaß haben. Doch Ernst Nitschke behütet die 24-Jährige wie es schon die Eltern getan haben, und Lieselotte bezweifelt nicht, dass der Mann das Sagen hat. Also kein Besuch im "Resi", wo per Tischtelefon andere 24-Jährige miteinander flirten. Statt dessen tippt Lieselotte für den ehrgeizigen Ernst am Abend Briefe, und am Wochenende fährt das Paar nach Strausberg, wo es den Garten zu bewirtschaften gilt.

Nitschkes werden immer einen Garten haben. Als Strausberg hinter dem Eisernen Vorhang verschwindet, ist es einer am Stössensee. Später einer in Eutin, Westdeutschland. Immer ist er riesig, mehr als 2000 Quadratmeter voller Äpfel, Birnen, Bohnen und Salat. Für Lieselotte heißt das Gelee, Saft und Mus machen. Zehntausende Einweckgläser füllt sie in ihrem Leben. Keine Frucht verkommt, darauf legt auch der sparsame Ernst Wert. Um alle Erzeugnisse unterzubringen, mietet er einen Luftschutzkeller.

Mag Lieselotte ihr Leben? Darüber spricht sie nicht. Das hat doch nie einer hören wollen, dann lernt man das Über-Sich-Selbst-Sprechen auch nicht. Aber was denkt Lieselotte, zum Beispiel beim Einwecken, wenn die Hände automatisch die vertrauten Handgriffe erledigen? Äpfel vierteln, Äpfel kochen, Äpfel reiben. Wieder, wieder und wieder, und der Dampf aus dem Kupferkessel legt sich heiß aufs Gesicht. Was denkt sie, wenn die Gedanken beginnen zu wandern? Vielleicht an das, was noch zu tun ist? Arbeit, das befriedigt doch auch, dann lobt der Ernst und auch der Nachbar, dass das Haus so sauber und die Rasenkante so akkurat ist. Noch mehr Arbeit gibt noch mehr Lob, dann macht all das doch Sinn. Was sonst könnte der Sinn des Lebens sein? Das weiß der Kopf über dem Kessel auch nicht, er ist nicht geübt im Denken. Ach, träume nicht, Lotte, mach dich an die Arbeit.

Lieselottes Freuden sind einfach. Hamann-Schokolade mag sie, die ist verpackt in Schatullen mit kleinen Schubladen, genauso schön wie praktisch - Wiederverwendbarkeit ist eine wichtige Sache. Aus Kleidern hingegen macht sie sich wenig, nicht einmal eine Lieblingsfarbe hat sie, naja, vielleicht Blau? Koketterie mit dem Spiegelbild, das Spiel mit der Verführung - auch das hat Lieselotte nicht gelernt, vielleicht fehlt ihr auch die Phantasie? Die schicken Sachen, die sucht sowieso immer der Ernst aus, aber, behüte, keine Hosen. Sowas trägt eine Dame nicht.

So lebt Lieselotte von Einmachglas zu Einmachglas, lebt fleißig und bescheiden und erfüllt jedermanns Erwartungen. Mama, sei doch mal egoistisch, sagt die Tochter. Ach, Kind, ob man dann glücklicher ist, das ist doch auch nicht sicher, entgegnet Lieselotte. Für sich selbst wünscht sie sich nur eines. Und, wie durch ein Wunder, erfüllt sich das durch die Wiedervereinigung: Nun bekommt Lieselotte Strausberg zurück. Unverändert! Lieselotte steht wieder in der Küche ihrer Kindheit, berührt den weißgestrichenen Tisch mit der kleinen Schublade, streichelt den Tontopf, aus dem sie als kleines Mädchen den Stollen stahl. Fast hat sich der Kreis geschlossen. Vollständig schließt er sich, als Lieselotte am Abend ihres Geburtstags stirbt, genau 90 Jahre, nachdem sie in Strausberg auf die Welt gekommen war.

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