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Berlin: Lieselotte Sauerbaum (Geb. 1921)

Eine Elfe auch jenseits der Bühne. Allerdings keine aus Zucker.

Du verläufst dich noch in der eigenen Küche!“ seufzte mancher, der sie besser kannte. So desorientiert Lieselotte Sauerbaum im gewöhnlichen Straßennetz war, so sicher bewegte sie sich durch die Welt der Feen und Prinzessinnen, der Hexen und der Teufel, kurz: durch die Welt des Balletts. Niemand weiß, wann sie zu tanzen begonnen hat. Man weiß: Es war sehr früh. Fotos zeigen sie bereits als Fünfjährige hingesunken in makellosem Spagat.

Dabei wären die streng katholischen Eltern nie auf die Idee gekommen, dem Kind eine Zukunft im Tutu vorzuschlagen. Doch seit Lieselottchen durch die Fenster der Offenbacher Ballettschule gespäht hatte, gab sie keine Ruhe, bis sie Tanzunterricht bekam. Und weil sie viel gelobt wurde und ihre Bewegungen so anmutig waren, entwickelte der Vater bald ungeahnten Stolz. Ihre Mutter hingegen war blind, und wenn Lieselotte ungezogen war, pflegte sie zu sagen: „Ich glaube, dass du gar nicht schön bist!“ Daher vielleicht Lieselottes Streben nach vollendeter Schönheit im Tanz wie in ihrer alltäglichen Erscheinung. Wunderhübsch war sie mit ihren blauen Augen, dem braun gelockten Haar und der zierlichen Gestalt, eine Elfe auch jenseits der Bühne. Allerdings keine aus Zucker.

Weil die Verdienste des Vaters nicht reichten, finanzierte Lieselotte sich ihre Tanzausbildung selbst, indem sie die Ballettschule putzte. Mit sechzehn bekam sie ihr erstes Engagement am „Grenzlandtheater Trier“ und tanzte sich von dort aus rasch in die Rolle der Primaballerina und Ballettmeisterin Lilo Graf, so ihr Künstlername. Sie war die Schwanenprinzessin, Giselle, Aurora. Und bald auch Frau Sauerbaum.

19 Jahre war sie jung, als der berühmte Tenor Heinz Sauerbaum sie um Ballettunterricht bat. „Pass auf“, wurde sie gewarnt, „der kann nicht nur singen wie ein Gott, der sieht auch so aus. In den sind alle verliebt, und außerdem ist er verheiratet.“ Lieselotte verbot sich also diesen Liebestraum – und gewann mit ihrer erwartungslosen Freundlichkeit sein Herz. Die Ehe des Sängers geriet ins Wanken, Lieselotte floh vor den Turbulenzen nach Erfurt, Heinz hinterher, sie beschlossen, nie wieder ohne einander sein zu wollen und feierten im Jahr 1944 Hochzeit.

Kurze Zeit später wurden die Opern und Theater geschlossen. Heinz musste an die Front und geriet in amerikanische Gefangenschaft, während Lieselotte ihr erstes Kind gebar. Mehr hat sie aus der Kriegszeit nicht erzählt. „Das vertanzt sich“, kommentierte sie alles, was unfroh stimmte. Sie war Ballerina, Botschafterin von Leichtigkeit und Schönheit.

Eine Botschaft, für die sie hart trainierte. Kaum aufgewacht, begann sie mit den ersten Übungen. Kein Alkohol, keine Zigaretten, kein Essen nach sechs. Das klingt freudlos, bedeutete für sie jedoch das Gegenteil: Disziplin als Mittel zur Freiheit. Gegen die Macht der Trägheit.

Diese täglich neu errungene Leichtigkeit wollte sie sich nicht nehmen lassen, egal, was da geschah. Als Heinz an Depressionen erkrankte, versuchte sie, ihn zu trösten: „Eines Tages wirst du wieder auf der Bühne stehen.“ Bis dahin war sie eben die Hauptverdienerin. Drei Kinder wollten inzwischen ernährt werden, mit dem Tanz allein war das unmöglich. Zwar hatte sie 1948 an der Oper in Leipzig eine Ballettschule gegründet, doch war die Familie Anfang der fünfziger Jahre nach Mannheim umgezogen. Eine neue Schule mochte sie nicht eröffnen.

Also schaute sie sich jenseits der Bühne um. Schließlich bekam sie Arbeit in einer Baracke auf einem Trümmergrundstück, in der sie entlassene Psychiatrie-Patienten tagsüber beaufsichtigen sollte. Kein Betreuungskonzept, keine Kollegen, dafür ein Telefon, das automatisch die Polizei anrief, sobald der Hörer abgenommen wurde.

Einer der Barackenbewohner trug eine Antenne auf dem Kopf, direkte Verbindung ins All. Nie hatte jemand so interessiert seinen Neuigkeiten gelauscht wie Lieselotte. Sie behandelte den Antennenträger wie einen Kollegen, denn schließlich wusste auch sie selbst viel aus Parallelwelten zu berichten: Geschichten von Feen, Elfen, Hexen, Prinzen und Teufeln. Und das tat sie, legte die Musik dazu auf, tanzte mit ihnen. Dr. Viehfuß, der Psychiater, der ab und an vorbeikam, staunte über das Wohlbefinden sowohl der Betreuten als auch der Betreuerin, die das Telefon nie benutzte.

Ihr Mann fand nicht wieder zu seiner alten Form zurück, doch Lieselottes Glaube an ihn sowie ihre Bereitschaft, das Geld zu verdienen, blieben unerschütterlich. In Berlin, wohin die Familie einige Jahre später zog, arbeitete sie in einer „Sammelklasse“ mit geistig behinderten Kindern. Wochentage, Farben, Monate wurden den Kindern da eingehämmert, seelenloser Drill, den Lieselotte schon im Ballett verabscheut hatte. „Man muss sie im Inneren berühren“, fand sie, nahm die Behinderten an die Hände und sang: Brüderchen, komm tanz mit mir …

Die Lehrerinnen begegneten der „pädagogischen Unterrichtshilfe“ Lieselotte Sauerbaum anfangs mit Misstrauen. Diese Unbekümmertheit, diese Absatzschuhe und diese lackierten Fingernägel! Um vom Status der Ungelernten wegzukommen, machte die Ballettmeisterin etwas widerwillig eine heilpädagogische Ausbildung. Sie wusste doch längst, was heilt: Tanz und Musik!

Noch als Über-Achtzigjährige schlüpf- te sie morgens in ihr Trainingskostüm, machte ihre Exercises, und lud die Haushaltshilfe ein, es ihr nachzutun.

Sie starb einen Sekundentod, plötzlicher Herzstillstand. Ihre Tochter fand sie kerzengerade auf dem Sofa sitzend, den Kopf anmutig geneigt, die Arme geöffnet wie zu einem porte des bras. Anne Jelena Schulte

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