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Berlin: Lieselotte Ulbrich / Alfred Ulbrich (Geb. 1919 / 1912)

„Lass mal. Wird schon werden. Das geht schon alles irgendwie weiter.“

Ein Häuschen in der Siedlung Eichkamp, eine Doppelhaushälfte aus den zwanziger Jahren, grün bewachsen von wucherndem Wein. Eine dörfliche Idylle mitten in der Stadt, gleich bei der Avus. Im Vorgarten steht ein mächtiger Walnussbaum. Der Unterstellplatz fürs Auto, ebenfalls zugewuchert, ist so schmal, dass beim Einparken gutes Augenmaß erforderlich ist. Kein Problem für Alfred Ulbrich im silbernen Golf. Den hatte er einem 96-jährigen Nachbarn abgekauft. Er selbst war da erst 94. Das Autofahren war noch immer eine leichte Übung. Überallhin chauffierte er seine Frau Lilo, und sie fühlte sich sicher.

Nach dem Fall der Mauer freuten sie sich, dass sie endlich wieder nach Neuruppin konnten. Immer wieder fuhren sie dort hin. Lilo, die aus Dortmund stammte, hatte hier ihre Ausbildung als landwirtschaftliche Rechnungsführerin abgeschlossen. Und hier hatte sie Alfred kennengelernt. Mitten im Krieg, 1944, als er auf Heimaturlaub bei einem Fest im Ruderclub auftauchte.

Gerudert ist er schon immer. 1936 hatte er nur knapp die Auswahl für den Olympiaachter verpasst. Er war ein großer, gut aussehender Mann. Aufgewachsen in Charlottenburg am Lietzensee, wo er im Geschäft seines Vaters eine Elektrikerlehre machte und schließlich seinen Meister. Gelegentlich führte ihn die Arbeit in die Wohnungen Prominenter im vornehmen Westend, so auch zu Paul Hindemith am Brixplatz. Nachdem Alfred dem Komponisten die Elektrik im Haus gerichtet hatte und dann auch die der elektrischen Eisenbahn, spielten die beiden Männer noch ein bisschen mit der Modellbahn, der Elektriker und der berühmte Musiker, der kurz darauf, 1938, vor den Nazis floh.

Vielleicht gefiel der eher vorsichtigen Lilo an Alfred die hoffnungsfrohe Einstellung. Was auch kommen mochte, er wusste: Alles würde schon irgendwie weitergehen. Dann ging auch alles immer irgendwie weiter. Noch im Dezember 1944 heirateten sie in Neuruppin. Doch dann mussten sie lange ohne einander auskommen. Alfred kam in russische Kriegsgefangenschaft, Lilo lebte bei der Schwiegermutter in Berlin. In den letzten Kriegstagen verlor sie ihren sechs Tage alten Sohn. Dass er nicht getauft war, hat sie ein Leben lang bekümmert.

Als Alfred 1947 aus Russland zurückkam, erkannte ihn sein eigener Vater zunächst nicht wieder. Doch er und Lilo blickten nach vorn – und alles ging irgendwie weiter. Sie fanden eine Wohnung in Eichkamp und mussten zwei von drei Zimmern untervermieten. 1949 wurde die Tochter Gabi geboren, 1952 Sohn Lutz. Das Geld war knapp, die Zeiten hart. Aber Alfred blieb optimistisch, sah nach vorne und beruhigte Lilo.

Die Kinder wurden zum Lebensmittelpunkt. Obwohl Alfred sie nur selten sah, weil er ständig arbeitete, für die Familie, für ein besseres Leben. Sich als Elektriker selbstständig zu machen, war ihm zu riskant, und so arbeitete er als Angestellter einer kleinen Charlottenburger Firma. Den ganzen Tag, die ganze Woche, ein ganzes Leben. Und noch ein bisschen mehr, ein bisschen nebenbei. Die alten Damen freuten sich, wenn er vorbeikam: „Da kommt der Herr Ulbrich und repariert uns den Schalter!“ Sonntags hatte er frei und machte einen Spaziergang mit der Familie im nahen Grunewald oder zum Teufelsberg.

Langsam ging es bergauf, Wirtschaftswunder, Auto, kleine Ferienreisen. Und alles fotografierte Alfred oder filmte es auf Super Acht. Urlaub in Österreich, Einschulung der Kinder, Familienfeste, Geburtstage, Konfirmation. Den Umzug in ein kleines gemietetes Häuschen. Alles dokumentiert, auf Film und Fotos, schwarzweiß. Die Nachbarschaft. Der Siedlerverein. Die Sommerfeste. Das Engagement von Lilo für den Mütterkreis, wo sich die belesene Frau über Kunst, Politik und Literatur austauschte, besonders Fontane liebte sie – Themen, für die sich Alfred nie sehr interessierte. Er war mehr fürs Handfeste: Fußball, Rudern, Tennis, der Garten. Und einmal in der Woche: Lotto.

Und dann der große Traum vom eigenen Häuschen. Etwas für die Zukunft, für die Kinder. Und wenn er dafür noch etliche Jahre schuften müsste. 1968 zog Familie Ulbrich in die Eichkampstraße, unten zwei kleine Zimmer für Alfred und Lilo, ganz oben eins für die Untermieter und im ersten Stock die Zimmer für die Kinder. Doch eigentlich waren sie da schon keine Kinder mehr. Sie begannen, ihrem Leben eine andere Richtung zu geben, als die Eltern sich das vielleicht vorgestellt hatten. Alfred beruhigte Lilo: „Lass mal. Wird schon werden. Das geht schon alles irgendwie weiter.“ Auch wenn Gabi mit der Rebellion der Studenten sympathisierte und mit 19 in eine WG zog. Auch wenn Lutz sich die Haare wachsen ließ, zum Rockmusiker „Lüül“ wurde und mit seiner Band „Agitation Free“ durch die Gegend zog, die Schule vernachlässigte und später das Studium.

Die Eltern blieben tolerant, als Gabi gegen bürgerliche Konvention und Kapitalismus aufbegehrte und Lutz anfing, süßlich riechendes Zeug zu rauchen. Oder als er nach langen Tourneen mit seiner späteren Band „Ash Ra Tempel“ zurückkam und wieder bei den Eltern einzog – gemeinsam mit seiner neuen Geliebten Nico, der ehemaligen Velvet-Underground-Sängerin. Lilo war immer so offen, sie genoss es, Studenten als Untermieter im Haus zu haben – aber diese düstere, heroinsüchtige Frau blieb ihr fremd. Eigentlich empfand sie nur Mitleid mit ihr und fand ihr Verhalten rätselhaft: Dass die nicht mal zu Weihnachten runterkommen wollte, zu Ulbrichs ins Wohnzimmer, sich stattdessen oben verschanzte, hinter schwarzen Vorhängen … „Leben und leben lassen!“, sagte Alfred zwar immer, aber es musste ja nicht unbedingt mit Heroin sein und nicht in ihrem Haus. Nico mit dem weißgekalkten Gesicht war ihnen dann doch zu fern. Sie sollte ausziehen, und Lutz ging gleich mit.

Doch blieb er den Eltern innig verbunden. Von Südamerika aus telefonierte er mit Alfred und besprach mit ihm das letzte Spiel von Hertha. Wenn er zu Besuch kam, fragte Lilo als Erstes: „Junge, hast du schon was gegessen?“ Sie waren auch stolz auf ihn, weil er als Musiker immer bekannter wurde, weil er bei den „17 Hippies“ spielte, und weil er ein Buch über sein Leben schrieb. Sie besuchten seine Konzerte und Lesungen, mischten sich unter die „jungen Leute“, freuten sich. Auch über ihre Tochter Gabi, die Lehrerin geworden war und Mutter von drei Kindern. Im ganzen Haus hingen die Fotos der Enkel.

Alfred und Lilo genossen ihr Leben. Sie gingen zusammen ins Theater und ins Kino, obwohl es für Alfred mühsam wurde mit seiner Schwerhörigkeit. „Gegen die Wand“ wollte Lilo sehen, aber dann war sie enttäuscht von dem Film, wegen der vielen Vulgaritäten. Oder „Halbe Treppe“, in dem Lutz mit den „17 Hippies“ mitspielte: Der war ihr zu deprimierend. Lustig hingegen war es, als die „17 Hippies“ bei ihnen zu Hause spielten, zu Alfreds 90. Geburtstag.

Als er mit 96 krank wurde, monatelang im Bett lag, sich nicht mehr bewegen konnte, erzählte Lutz ihm, was er geträumt hatte: Dass sie alle noch einmal zusammen im Garten säßen. Und Alfred nickte: Na denn. Sie hievten ihn aus dem Bett in einen Stuhl und trugen ihn raus in seinen geliebten Garten. Als er da eine Weile gesessen hatte, fragte Lutz: „Und Vater, wie isset?“ – „Na ja, mal watt anderet!“ sagte Alfred. Auf seiner Beerdigung schien die Sonne, und die „17 Hippies“ spielten „Freut euch des Lebens!“ Das hatte er sich so gewünscht.

Lilo sagte, dass sie sich freuen würde, wenn jemand einen Nachruf für ihren Mann im Tagesspiegel schriebe, weil sie selbst so gern diese Lebensgeschichten las. Nur etwas Zeit solle man ihr noch geben, um mit ihrer Trauer klarzukommen. Immerhin waren sie 64 Jahre verheiratet, Alfred und sie. Wenn sie sich etwas erholt habe, werde sie gerne etwas erzählen über ihren Mann, über ihr gemeinsames Leben. Aber dann musste auch sie ins Krankenhaus und fand, dass es eigentlich genug sei mit dem Leben.

Sie verabschiedete sich von allen. Ihrem Sohn, der gerade aufbrach zu einer Tournee, sagte sie: „Leb wohl, mein Junge, hab noch ein schönes Leben!“ Und sie lächelte dabei. Mit ihrer Tochter sang sie nochmal Kinderschlaflieder. Und freute sich ein letztes Mal über Fontane: Immer enger, leise, leise / Ziehen sich die Lebenskreise, / Schwindet hin, was prahlt und prunkt, / Schwindet Hoffen, Hassen, Lieben, / Und ist nichts in Sicht geblieben / Als der letzte dunkle Punkt. H. P. Daniels

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