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Berlin: Lothar Bochat (Geb. 1946)

Nur gegen das Schicksal kam er nicht an

Es gibt leise Menschen und es gibt laute Menschen. Die leisen arbeiten und die lauten reden darüber. Seine Mutter war eine der leisen. Sie hat ihn allein großgezogen, als Köchin oft nachts gearbeitet, damit sie tagsüber bei ihm sein konnte. Er hat es ihr gedankt, indem er als Erster in der Familie zehn Schulklassen schaffte und dann „Krankenkasse lernte“, wie er es ausdrückte. Offizielle Berufsbezeichnung: Sozialversicherungsfachangestellter, zudem 20 Jahre Gewerkschaftssekretär und nach der Pensionierung mehr Ehrenämter, als Platz ist sie aufzuzählen. Denn das hat er auch von seiner Mutter gelernt: „Wer schweigt, wird nicht gefragt.“

Wer Gerechtigkeit will, braucht Sitzfleisch, Sachkenntnis und ein bisschen Sturheit. Von allem hatte er genug. Vor allem Ausdauer, auch in der Liebe. Beim Jugendberufswettbewerb war er Juror und sie Dekorateurin, und was er sah, gefiel ihm. „Wollen wir nicht mal zusammen Pizza essen gehen?“ Gefühlsausbrüche waren nicht seine Art. 20 Jahre dauerte es, bis er ihr von sich aus Blumen schenkte, einfach so, ohne Anlass, weitere 26 Jahre gaben ihm hin und wieder die Gelegenheit zu betonen, wie hübsch sie sei, vor allem ungeschminkt.

Den drei gemeinsamen Kindern las er nicht einfach nur vor, er erfand Geschichten für sie. Und er ermahnte sie, Sätze immer zu Ende zu sprechen. Saloppheiten wie „Kann ich mal die Butter?“ machten ihn wahnsinnig. Grammatikfehler sind Denkfehler, und wer sich nicht ausdrücken kann, kann auch nicht seine Rechte einfordern.

Bücher waren für ihn wichtig. Er hat sie sich auch gern von den Autoren signieren lassen, das hatte etwas Verbindliches. Vor allem Biografien sammelte er, darunter alle Kanzler und Bundespräsidenten, nebst all ihren Reden. Zu jedem Buch archivierte er auch die passenden Artikel. „Du, das gibt’s heute alles auch im Internet!“ Klar, das wusste er, aber er wollte es schwarz auf weiß. Er nahm Politiker gern beim Wort. Als Gerhard Schröder in der Sozialpolitik seiner Meinung nach die falschen Worte fand, trat er aus der Partei aus. Als ehrenamtlicher Richter und Patientenvertreter hatte er häufig genug mit Menschen zu tun, für die nicht mehr genug getan wurde. Seine übliche Ansprache: „Alles schön?“ Wenn er hörte: „Nee, ist nicht alles schön, schon gar nicht in Sachen Rente!“, dann war er beratend zur Stelle. „Kommen Sie gleich!“ Er brauchte das, anderen zu helfen. Da war er auch unbestechlich. Alle Versuche der Pharmavertreter, ihn, den Anwalt der Patienten, mit kleinen und großen Geschenken gefügig zu machen, unterband er auf der Stelle. Er ließ sich nicht kaufen.

„Lasst uns mit an den Tisch“, das war für ihn keine unhöfliche Forderung, schon gar kein Betteln, sondern das selbstverständliche Recht der Versicherten, gehört zu werden. Und wenn behinderten Patientenvertretern der rollstuhlgerechte Zugang zu Sitzungen nicht ermöglicht wurde, dann konnte er auch mal mit der Faust auf den Tisch hauen. Einer, der für andere die Briefmarken sammelt, und sie immer schön einsortiert in den großen Karton.

Wenn er nicht arbeitete, lag er gern in der Sonne, am liebsten mit Blick auf seine Rhododendren. Ansonsten brauchte er keinen Luxus. Einmal hat er eine größere Summe im Lotto gewonnen, das reichte für eine Winterreise mit allem Luxus für die ganze Familie. Ansonsten verglich er im Alltag penibel die Preise durch ausführliches Studium der einschlägigen Prospekte. Er ließ sich nun mal nicht gern an der Nase rumführen. Nur gegen das Schicksal kam er nicht an. Er war krank, schon lange, zu viele Medikamente, das vertrug die Leber nicht. Er wusste, dass es zu Ende ging, aber er wollte nicht groß drüber sprechen. Er wollte auch nicht, dass jemand es erfährt. „Das Leben ist endlich. Das merkt man jetzt.“

Unter der grünen Wiese wollte er beerdigt werden, kein eigenes Grab, ein kleiner Friedhof in Lichterfelde, wo er groß geworden ist, ringsum Rhododendron, da würde er sich gut aufgehoben fühlen. Wie problemlos das Miteinander sein könnte, wenn es mehr Menschen von seiner Art gäbe.

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