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Berlin: Love Parade: Ausgerechnet auf dem hochkommerziellen Event kommt Karl Marx wieder ganz groß raus

Eigentlich stand sein Konterfei jahrelang auf dem Index. Viele ostdeutsche Kommunen verbannten Porträts und Büsten aus ihren Städten, schließlich galt Karl Marx als Ikone des Sozialismus schlechthin.

Eigentlich stand sein Konterfei jahrelang auf dem Index. Viele ostdeutsche Kommunen verbannten Porträts und Büsten aus ihren Städten, schließlich galt Karl Marx als Ikone des Sozialismus schlechthin. Nun kehrt er zurück, als Symbol von Chemnitz, dass den eigenen Karl-Marx-Kopf (sächsisch: Nischel) immer mehr vermarktet. Er fährt zur Love Parade - in guter, in Chemnitzer Mission und wird sich vielleicht in die Reihe der Trendrevoluzzer einreihen. Kommt nach Mao Tse-Tung und Che Guevera jetzt Karl Marx, der Verfechter einer besseren, proletarischen Welt, auf die T-Shirts? In Chemnitz ist er längst Kult.

Die Macher des Chemnitzer Clubs "Achtermai" wollen mit dem Wahrzeichen der Stadt "durch die Welt" in Berlin fahren. Zumindest ist diese durch über eine Million Raver aus aller Herren Länder vertreten. Dafür setzt man nicht das Original des Bildhauers Lew Kerbel aus ukrainischem Granit auf den Truck, vielmehr fertigten die Chemnitzer Theaterwerkstätten eine Kopie an - aus Styropor und mit Kopfhörern. Dann wird Marx von zahlreichen Wagenmitläufern umringt werden, die ihm zujubeln, winken, nach seiner Musik aus den 25 000-Watt-Boxen tanzen. Denn "Marx is a DJ", meinen die Betreiber des "Achtermai". Wenn der Feind des Kapitals das erleben könnte, wie ihm Tausende auf der kommerziellsten aller Berliner Massenveranstaltungen zusprechen.

Für die Leute aus dem "Achtermai", dem populärsten Technoclub in der Region, war die Idee für den Berliner Transport des "Nischels" schnell gefunden. "Wenn man sich in Chemnitz trifft, dann vor dem Marx", sagt Jörg Viehweg, Mit-Betreiber des Clubs. Aus der Stadt sei er nicht mehr wegzudenken, "man lebt einfach damit". Und der "Kopf", wie er auch genannt wird, dient heute als Tourismusattraktion und ist ein beliebtes Fotomotiv. Barbara Einwag von der Chemnitzer Stadtmarketing GmbH denkt ähnlich: "Wir vermarkten den Karl-Marx-Kopf gerne in der Stadt." Obwohl es darüber lebhafte Debatten gegeben hatte, abhängig natürlich von der Parteienlandschaft. Jetzt habe er sich als Wahrzeichen durchgesetzt, so Einwag. Chemnitz ist nunmehr eine "Stadt mit Köpfchen", wie es auf Broschüren heißt. Und die Maskottchenwelle läuft an: so gibt es mittlerweile "Pop-Art-Nischel" und "Marzipan- Nischel" des Philosophen mit der markanten Physiognomie.

Vor diesem Hintergrund wurde die Aktion der jungen Clubbesitzer auch im Chemnitzer Rathaus wohlwollend angenommen. Die Stadt selber gab Zuschüsse für das Projekt, zudem wurden schnell private Sponsoren gefunden. Die Idee überzeugte auch Planetcom, die Organisationsfirma der Love Parade, und plante "Achtermai" im Februar als einzigen sächsischen Club für die Wagenparade ein. Danach ging es an die Umsetzung. "Allein zehn Leute aus unserer Crew bauten über zwei Wochen den Truck um", sagt Viehweg. Glücklicherweise boten die Theaterwerkstätten ihre Hilfe für das Projekt an, die noch länger an der Nachbildung des "Nischels" arbeiteten. Jetzt ist er fertig und wird auch nach der Loveparade seine Verwendung finden. Auf der "Futureparade" des Arbeitsamtes fährt er am 12.7. durch die Chemnitzer Innenstadt.

Auch danach keine Entsorgung: "Vielleicht bauen wir den Marx für die eine oder andere Veranstaltung im Club wieder auf.", so Viehweg. Aber vorerst thront er als Herzstück auf dem 580-PS-Lasters, der heute losrollt - in leuchtendem Bronze. Die Leute werden auf und neben dem Wagen tanzen, nicht ganz nach seiner Musik, denn er ist kein DJ. Aus seinem angeschnittenen Schädel schauen die eigentlichen Plattendreher auf die Massen und legen House in allen Nuancen auf. Ganz im Sinne des aussagekräftigen Songs von "Insomnia": "God is a DJ".

Henning Kraudzun

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