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Berlin: Ludwig Ballarin (Geb. 1946)

Wenn er Sorgen hatte, ging er in den Wald.

Frau Ballarin sitzt auf ihrer Terrasse im Dörfchen Brieselang, die Morgensonne scheint auf die Wachstuchtischdecke. Vorne am Haus arbeitet ein Handwerker. Früher hat sie keine Handwerker gebraucht. Früher gab es ja Ludwig. Ludwig mit den goldenen Händen.

„Rauchen Sie?“ Frau Ballarin zündet sich eine Zigarette an, dann beginnt sie zu erzählen.

Ein weicher Mensch war er, ein weicher Mensch mit starken Armen. Der konnte nie Nein sagen. Das war schon früher so. Als der Vater beschloss, aus der kleinen Hausmeisterwohnung auszuziehen und ein Haus zu errichten für sich und die sechs Kinder, da war es Ludwig, der Zweitgeborene, der schuftete und rackerte, bis das Richtfest gefeiert werden konnte. Denn der Krieg hatte den Vater ein Bein gekostet, und die Geschwister hatten anderes vor.

So hart er arbeitete, so sanft war sein Gemüt. Wenn Ludwig aus dem fränkischen Altmühltal, wo die Familie lebte, in die Ferien zu seiner Oma nach Berchtesgaden fuhr, dann kam es vor, dass er abends auf ihrem Hausdach saß und die Gipfel des Watzmanns besang. „Der weiße Mond von Maratonga“ sang er dem Watzmann vor.

Frau Ballarin drückt ihre Zigarette aus. „Ich schau mal nach“, murmelt sie, verschwindet, kehrt mit der Trauerkarte in der Hand zurück, „das ist er, da, dieses Foto.“

Ein Mann mit sommerhimmelblauen Augen, starkem Grübchen im Kinn, Schnauzer und Brille. „Sehen Sie“, sagt Frau Ballarin, „vorne fehlten ihm die Haare.“ Als Siebzehnjähriger, während seiner Ausbildung zum Mechaniker, ist sein Haupthaar in eine Maschine gekommen. Nur gut, dass er nicht mit Eitelkeit geschlagen war. Irgendwann werden sie da oben eh dünn, die Haare, hat er sich gesagt.

Mit 23 hat er zum ersten Mal geheiratet. Vier Kinder haben sie bekommen, aber Ludwig war fast immer auf Montage und nur selten daheim. Nach neun Jahren war es aus. Sie hatten sich auseinandergelebt.

Frau Ballarin schweigt eine Weile, dann sagt sie: „Doch, es hat ihn geschmerzt, dass die Kinder so weit weg waren.“ Aber er wird sich bei kaum jemandem Rat und Trost geholt haben. Wenn Ludwig Sorgen hatte, dann ging er in den Wald.

Ein Wunder, dass er noch Kraft für seine Wanderungen fand. Ludwig musste viel arbeiten, um den Unterhalt zahlen zu können. Morgens um drei stand er auf, trug Zeitungen aus, und anschließend ging es weiter zu Tonami, einer Firma, die Marmortische und Säulen herstellte. Oft schob er Überstunden bis abends um acht. In manchen Monaten hatte er gerade mal 150 Mark übrig für sich selbst.

Mit 37 Jahren lernte er auf einem Konzert seine zweite Frau kennen. „Ludwig“, sagt sie, „der liebte Musik. Der mochte eigentlich alles. Die Puhdys, Elvis, Schürzenjäger.“ Da hat er immer laut mitgesungen und ist durch die Küche getanzt. Er wusste sich am Leben zu freuen. Wenn er auch kein Geschäftsmann war.

„Rahmenzauber“ hieß der Laden, den er 1988 in Moabit eröffnete und in dem er selbst gefertigte Bilderrahmen verkaufte. Auch eine Do-it- yourself-Bilderrahmenwerkstatt gehörte dazu. Zwar hatte er viele Künstler als Kunden, doch die wenigsten von ihnen besaßen Geld. Einer hat ihn mal mit 200 Zahnbürsten bezahlt.

Als Ludwigs Frau das alte Haus ihrer Großmutter in Brieselang zurückbekam, zogen sie raus. „Vielleicht“, fragt Frau Ballarin, „vielleicht haben Sie die Regalwand im Wohnzimmer gesehen? Die hat er auch selber gebaut.“ Goldene Hände.

In der Garage eröffnete Ludwig „Die kleine Galerie“: Bilderrahmen, Künstlerbedarf, Neubespannung von Stühlen. Da war die Tochter schon geboren, und Ludwig war froh, anders als in seiner ersten Ehe so nah bei seiner Familie arbeiten zu können. Für das Töchterlein ließ er alles stehen und liegen. Er half ihr bei den Hausaufgaben, war Elternsprecher, tanzte mit ihr. Seine Tochter aus der ersten Ehe lebte auch einige Jahre bei ihnen, und später auch sein Sohn. „Es war eine schöne Zeit“, sagt Frau Ballarin.

Nur die letzten Jahre waren anstrengend. Ludwig litt an Demenz und Diabetes. Seine Frau war froh, dass sie bereits in Rente war und ihn versorgen konnte. „Am liebsten“, sagt sie, „am liebsten hat Ludwig Leberkäs gegessen. Als ich mal auf Kur war und ihn anrief, was hast du heut’ Mittag gegessen, Ludwig, da sagt er: Leberkäs. Und am Abend? Leberkäs. Und wie ich ihn am nächsten Mittag anrufe und frage, was sagt er da? Leberkäs.“

Außer Leberkäse mochte Ludwig Pfannkuchensuppe. Und daran, dass Ludwig seine Pfannkuchensuppe nicht essen wollte, merkte Frau Ballarin, dass irgendetwas grundlegend nicht stimmte. An diesem Tag legte sie eine CD auf, „Du bist so weit weg von mir“. Und da hat er mitgesungen: „Du bist so weit weg von mir.“

Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass sie ihn wieder singen hörte. Um ein Uhr nachts hat sie ihn dann gefunden. Schlaganfall.

Frau Ballarin seufzt. „Man vergisst ja so vieles. Aber beim Aufräumen, da finde ich jetzt dies und das, alte Briefe, solche Dinge.“

Die Sonne ist ein Stückchen höher gewandert. Sie öffnet die Gartentür: „Wir hatten glückliche Jahre, doch, das kann ich sagen.“ Anne Jelena Schulte

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