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Berlin: Ludwig Nicolai Menkhoff (Geb. 1924)

Trunken betrachtet, ist Trunkenheit etwas sehr Schönes.

Die Legende vom heiligen Trinker wird in vielen Versionen erzählt, die Kreuzberger Fassung ist die folgende.

In dem Lokal „Zum Goldenen Hahn“ saß jahraus, jahrein ein Mann an seinem angestammten Tisch und versammelte die versprengten Seelen der niederen und höheren Sphären um sich, auf dass jeder seine Geschichte erzähle, in der einen oder anderen Variante, denn Langeweile war das Letzte, was Ludwig Menkhoff in seinem Leben zuließ.

„Sto Gramm Wodka!“, so flutete er die Ebenen des Alltags, „Sto Gramm“, denn er war Russe, der Seele nach, wiewohl in Nordenham geboren. Der Vater war ein geflüchteter Kosak – so ließ er zuweilen sein Gegenüber glauben, wenn es denn leichtgläubig war. Tatsächlich gibt es nur wenig Verlässliches über Nicolai zu sagen.

1933, es mag auch 1939 gewesen sein, floh er mit seiner kommunistischen Großmutter in die Sowjetunion, verbrachte glückliche Jahre in Moskau und Leningrad. Er kam zurück als junger Soldat mit der Roten Armee, in der zweiten Angriffswelle, wurde ins Feuer gehetzt mit Wodka, was wahr ist, denn die Gürtelschnallen seiner toten Kameraden hat er bis zuletzt aufbewahrt. Unwahr ist wohl, dass er zunächst in der Wehrmacht kämpfte und dann überlief.

Nicolai blieb im „besseren Deutschland“, verließ es, als absehbar wurde, dass es keineswegs besser war, und heuerte auf einem Schiff an. Zwanzig Jahre zur See.

Verschiedene Kähne, verschiedene Flaggen, eine Stückelrente aus aller Herren Länder und Seemannsgarn ohne Ende.

Ende der Sechziger landete er in Berlin. Er hatte eine Ehe hinter sich, die nie vollzogen worden war, und ein schwules Leben vor sich, das er mit aller Hingabe genießen sollte.

Nicolai war ein Connaisseur der Kneipen, der allgemein Begehbaren und jener, bei denen angeklopft werden musste. Stets auffällig gut gekleidet und gepflegt, neugierig und ausgestattet mit einem umfänglichen Wissen über die Literatur. Meist hatte er seine Kamera dabei, ein Zille der Neuzeit, und hielt das Leben der anderen fest: Beatniks, Berber, Wermutbrüder und die Schwulen in den Hardcore-Clubs. Nicolai stand zu seiner Homosexualität, was ihn einmal fast das Leben gekostet hätte.

Er saß mit seinem Freund vor der „Roten Harfe“, ein Passant stach wie wild auf ihn ein, zehn Stiche, er überlebte knapp. Das Schlimme an der Sache: Fortan musste er süßen Rotwein trinken, weil er härtere Sachen nicht mehr so gut vertrug. Die ethnologische Version: Der Attentäter war ein Türke. Die romantische: Es war ein enttäuschter Liebhaber.

Nicolais Wohnung war ein Obdachlosenasyl für Stricher, für Drogenkids, für desertierte Russen. Nächstenliebe, mal egoistisch, mal selbstlos, und in wechselnden religiösen Gewändern. Er war katholisch, evangelisch, jüdisch, zuletzt orthodox – dank eines Erweckungserlebnisses in Griechenland. Er sah eine Ikone, und widmete sich fortan selbst der Ikonenmalerei. Er liebte die orthodoxe Liturgie und die Messdiener, vor allem die Messdiener. Außerhalb der Gottesdienste zelebrierte er seine Andachten in den einschlägigen Lokalen: „Die schwarze Rose“, „Die Jägerklause“, „Der Jedermann“, und bevorzugt „Der Goldene Hahn“, lange Zeit die einzige Kneipe, die tagsüber offen hatte, von zwölf bis fünf.

Der Gastraum nikotingelb, Blümchengardinen, die ausgestopfte Eule auf der Schultheißleuchte, das Hirschgeweih an der Wand, Insignien einer Trinkkultur, die im Versinken begriffen ist, weil ihre Helden aussterben.

Die Kommune der Trinker eint die dionysische Gewissheit, dass der Alltag der anderen stets gefährlicher ist als der eigene Suff. Nüchtern betrachtet ist Trunkenheit meist etwas sehr Unschönes: „Alkohol“, so warnt eine Inschrift im „Goldenen Hahn“, „ist ein hervorragendes Lösemittel! Alkohol löst Ehen, Bankkonten, Arbeitsplätze, Wohnungen, Freundschaften, Gehirnzellen restlos auf!“

Trunken betrachtet ist Trunkenheit etwas sehr Schönes, denn man ist weniger als ein kleines Promill von der absoluten Erkenntnis dessen, was war und was ist und was sein soll, entfernt.

Leider ist dieses kleine Promill gekoppelt an das absolute Vergessen der absoluten Erkenntnis. Was am nächsten Morgen bleibt, ist die vage Erinnerung an den Erkenntnisgewinn – und das sehr konkrete Empfinden, dass solches Kopfzerbrechen brachiale Kopfschmerzen bereitet.

Insofern also ist Trunkenheit, so ihre Macht der Erkenntnisgewinnung ernst genommen wird, ein notwendig serielles Geschehen, vollzogen in der Gemeinschaft der Einsamen.

„So sechs wie wir fünf gibt es keine vier, denn wir drei sind die beiden einzigen hier.“

Sinnsucher allesamt, Lakoniker des Leids: Sie: „Nun sag’ doch schon was!“ Er: „Was?“ – Sie: „Na, das war doch schon was!“

Nicolai kannte sie alle, er hat jeden Kneipengänger angesprochen, vieles notiert. Seit Kriegstagen führte er Tagebuch, ein Schatz, wenn nicht einer seiner Zöglinge in einer Drogennacht die Wohnung abgefackelt hätte. Andere Version: Er hat die Bücher selbst in einer Depression im Kohleofen verbrannt.

Nicolai war das Gedächtnis Kreuzbergs, das sich langsam auflöste in alkoholischer Demenz. Was hingegen wieder auftauchte, mit aller Gewalt, war das Grauen des Kriegs. Aber: Lieber mit den Gespenstern leben, als sich von seinen Kameraden für immer verabschieden müssen.

Nicolai hat stets geholfen, gegeben, was er geben konnte und mehr, und sah sich folgerichtig auf dem Weg in den Himmel. Natürlich starb er am Suff, an was sonst, aber die Legende vom heiligen Trinker, die lebt weiter. Gregor Eisenhauer

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