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Berlin: Magische Momente im Sonnenlicht

Als das Reichstagsgebäude hinter dem silbrigen Stoff verschwand, schien Berlin Atem zu schöpfen im Wirbel der Veränderungen

Es lag am Stoff. Oder besser: an dem, was das Licht mit ihm machte. Zogen Wolken auf, erstarrte der verpackte Reichstag wie ein Gletscher aus Sichtbeton; kam die Sonne heraus, löste er sich auf in eine silbern flimmernde Phantasmagorie. Der Stoff nahm die Morgendämmerung auf, warf das erste klare Licht grell in die Stadt, und in der Abenddämmerung verglühte er wie eine Phalanx von Alpengipfeln. Und auch der Wind veränderte die Stimmung von Minute zu Minute: Mal ließ er die Bahnen nervös aufrauschen, mal hingen sie schlaff da wie für die Ewigkeit montiert. Das Wetter schwankte sehr in diesen Frühsommertagen des Jahres 1995.

Die Reichstagsverpackung, nun ja.

Die lange Debatte hatte uns ermüdet, und vermutlich waren die Meinungen unter den Berlinern ebenso kontrovers verteilt wie unter den Abgeordneten, die sich knapp für das Christo-Projekt aussprachen; mancher war einfach nur deshalb dafür, weil in der Zustimmung die einzige Chance lag, die knirschende Begründungs- und Interpretationsmaschinerie endlich verstummen zu lassen.

Die Christos, so hieß es vorher, wollten den geschichtsträchtigen Wallot-Bau symbolisch zum Schweigen bringen – doch das Gegenteil geschah, er begann quasi zu sprechen. Rasch stimmten Fans wie Skeptiker in der Stadt darin überein, dass es wenig Sinn hatte, einfach nur zu kommen, zu gucken und wieder zu gehen. Wer alle Facetten erleben wollte, ließ sich am späten Nachmittag nach der Arbeit auf der Wiese nieder, erlebte Sonnenuntergang und Dunkelheit, picknickte, schlief irgendwann ein wenig, erlebte Dämmerung und Sonnenaufgang und ging schließlich bildergesättigt zur Arbeit, bevor endlich die Tagestouristen auftauchten und den Zauber ein wenig beeinträchtigten; brechen konnten auch sie ihn nicht.

Auf der Wiese vor dem Reichstag entfaltete sich deshalb eine Art Zeltlager der Nationen, einschließlich Holzfeuer und Klampfenmusik. Die scheinbare Schwäche der Reichstagsverhüllung, die darin bestand, dass sie absolut keine Botschaft transportierte, nichts bedeutete, nicht einmal etwas zu bedeuten vorgab – sie wendete sich in deren größten Vorteil. Es schien, als habe sich eine Meditations- und Projektionsfläche gefunden, die es der Stadt und ihren Gästen erlaubte, eine Zäsur zu setzen, Atem zu schöpfen im Wirbel der Veränderungen. Draußen in der neuen Mitte der Stadt drehten sich längst die Kräne über tiefen Baugruben, wurden unaufhörlich neue Fakten geschaffen in Stahl und Beton. Als die Verpackung wieder fiel und die Bauarbeiten am Reichstag begannen, da war das auch ein neues Startzeichen. Der Aufbruch konnte nach Jahren der Planung nun endlich auch in den Köpfen der Bürger beginnen.

Doch entscheidend war, dass in diesen legendären Tagen im Sommer 1995 der Schritt vom abstrakten Gesamtkunstwerk zum heiteren Kollektiverlebnis gelang. Noch nie in der Geschichte der Kunst wurde so umfassend über ein einzelnes Werk diskutiert, und an die Stelle der klassischen Interpretation rückte die Kommunikation über das Werk und seine Implikationen, die nach dem Abbau der Verhüllung keineswegs abbrach.

Wer dabei war, hat irgendwo im Schrank oder im Fotoalbum noch einen Fetzen des silbernen Stoffs, den die Ordner verteilt hatten, um zu verhindern, dass Andenkenjäger das gesamte Werk zerschnippeln. Es genügt, dieses Stück in die Hand zu nehmen und die eigenartige Textur zu fühlen – und schon steht der Reichstag wieder vor Augen in dieser seltsam grafischen Reduktion, die es manchmal schwer machte, Foto und Zeichnung zu unterscheiden.

Am fertigen Reichstag ist die Magie dieser Tage nicht einfach wiederzufinden. Aber ohne sie wäre er nicht das, was er heute ist.

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