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Berlin: Mahnung in Messing

Seit zehn Jahren Stolpersteine für Holocaust-Opfer

Familie Raphael lebte in der Kreuzberger Oranienstraße 167 – bis zum 12. März 1943. An diesem Tag wurden Henriette, Walter und Horst Raphael nach Auschwitz deportiert. Vor ihrer ehemaligen Haustür stehen die Namen auf drei kleinen Messingplatten, die ins Pflasterwerk eingelassen sind: auf Stolpersteinen.

Vor zehn Jahren hat der Kölner Künstler Gunter Demnig die ersten 47 Stolpersteine in Berlin verlegt. Die zehn mal zehn Zentimeter großen Gedenkplatten für Familie Raphael waren drei davon. „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, sagt Demnig. Er will die Namen hinter den Schicksalen dorthin zurückbringen, wo sie ihre Heimat hatten. Aus der abstrakten will er eine konkrete Geschichte machen.

1996 war das Verlegen der Stolpersteine in der Oranienstraße noch eine Kunstaktion. Die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) hat dort ihren Sitz und lud Gunter Demnig ein, an der Aktion „Künstler forschen nach Auschwitz“ teilzunehmen. Heute erinnern 1167 Stolpersteine in Berlin an Sinti und Roma, politisch Verfolgte, Homosexuelle, Zeugen Jehovas und Euthanasieopfer, die im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden. In den vergangenen Wochen war Demnig wieder einmal hier, verlegte 122 der kleinen Mahnmale in sieben Berliner Bezirken.

Die Stolpersteine sind zum Teil deutscher Erinnerungskultur geworden. Über 8000 Messingplatten hat Demnig deutschlandweit in 158 Städten vor dem letzten selbst gewählten Wohnort der Opfer in den Gehweg eingelassen. „Das Interesse ist unheimlich groß“, sagt der Künstler. „Das Schöne ist, dass das Projekt etwas auslöst. Plötzlich wollen Anwohner und Passanten wissen, was eigentlich mit ihren einstigen Nachbarn geschehen ist.“

Aus dem Kunstprojekt ist ein Engagement von Bürgern erwachsen. Die mehr als ein Dutzend Berliner Initiativen werden seit einem Jahr in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand koordiniert. Patenschaften kann jeder für 95 Euro pro Stein übernehmen. In Reinickendorf bemüht sich eine Arbeitsgemeinschaft um das Gedenken an Euthanasieopfer aus einer Nervenklinik. Im alten Scheunenviertel erinnern Steine an ermordete Homosexuelle. An vielen Schulen erforschen Arbeitsgemeinschaften das Schicksal von Verfolgten in der Umgebung. Die Schüler werten Akten aus, sprechen mit Anwohnern, gestalten Gedenkfeiern. Besonders engagiert seien Jugendliche aus Migrantenfamilien, sagt Manuela Ebertowski von der Carl-von-Ossietzky-Oberschule in Kreuzberg, die eine Schüler-AG leitet. „Sie nehmen ganz besonders die Perspektive der Opfer wahr.“ In Friedrichshain-Kreuzberg (428) und Mitte (373) liegen die meisten Berliner Stolpersteine. Fast jeder Bezirk unterstützt Demnig bei seiner Gedenkarbeit. Nur Neukölln „zickt noch rum“, erzählt Demnig. Und der einzige Stein, der bisher in Spandau verlegt wurde, sei „etwas illegal“.

Nächstes Jahr werde er voraussichtlich erstmals in Budapest und Odessa Steine verlegen, erzählt er. Von Anfang an sei das Projekt europäisch konzipiert gewesen. In Österreich liegen zwei Stolpersteine für Zeugen Jehovas in St. Georgen, dieses Jahr kommen Steine in vier weiteren Städten hinzu. In Kopenhagen und Amsterdam hat er angefragt. Es sei nicht ganz einfach, im Ausland Fuß zu fassen. „Die Initiative müsste von dort kommen.“ Aus aller Welt erhält er Anfragen. Er wird seine Platten weiter verlegen, so lange es Patenschaften gibt. Damit auch an Nachbarn und Freunde von Familie Raphael erinnert wird.

Dorothee Schmidt

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