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Berlin: Man muss nicht immer stark sein

Wer Stress entkommen will, sollte auch Gedankenmuster durchbrechen, empfehlen Psychologen

Stress – das war für Hans Selye, der den Begriff Anfang der 50er Jahre in die medizinische Debatte warf, kein Synonym für Krankheit. Im Gegenteil: „Stress ist die Würze des Lebens“, befand der Biochemiker. Er unterschied allerdings zwischen „Eustress“ und „Distress“, also der gesundheitsförderlichen und der schädigenden Art, in der die Anforderungen des Lebens auf den Menschen wirken können. Förderlich ist Stress, wenn ein Gleichgewicht zwischen Aufgaben und Bewältigungsmöglichkeiten besteht.

Gerade zum Jahreswechsel fassen viele Menschen den Vorsatz, sich ihr Leben in Zukunft möglichst so einzurichten, dass diese Balance entsteht. In einer Welt, in der Einkommen und beruflicher Status in den Augen Vieler den „Wert“ eines Menschen ausmachen, ist das aber schwer durchzuhalten, wie schon der Lyriker Eugen Roth wusste: „Ein Mensch sagt – und ist stolz darauf –,/ Er geh’ in seinen Pflichten auf./ Bald aber, nicht mehr ganz so munter,/ Geht er in seinen Pflichten unter.“

Wie das zu verhindern ist, kann man inzwischen in unzähligen Ratgeber-Büchern nachlesen: Man kann sein Leben vereinfachen, seine Wohnung entrümpeln, Aufgaben delegieren, den Terminkalender ausdünnen. Doch auch wenn äußere Stressquellen wie Termindruck prinzipiell durch gute Organisation eingedämmt und beherrscht werden können, bleiben oft die belastenden Gedanken und beschwerlichen Gefühle – und auch die führen immer wieder zu negativem Stress. „Wir alle haben von Kindesbeinen an bestimmte gedankliche Muster aufgebaut, die zu verzerrtem oder falschem Denken und damit zu Stress führen“, sagt der Psychologieprofessor Ulrich Völker von der Evangelischen Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Berlin. Solche „chronisch gewordene“ Gedanken sind etwa: Ich muss immer stark sein. Ich bin nur so viel wert, wie ich an Leistung erbringe. Ich muss bei allen beliebt sein. Auf der Gefühlsebene werden sie begleitet von Eifersucht und Schuldgefühlen.

Genau diese festen Gedankenmuster und problematischen Gefühle setzen uns immer wieder von neuem unter Druck, meint der Psychologe. So sind es nach Völkers Überzeugung gar nicht die Alltagsaufgaben allein, die Stress verursachen. „Stress entsteht immer durch eine Kombination von äußerer Belastung und der eigenen Reaktion darauf, die ihrerseits von inneren Bedingungen bestimmt wird“, erläuterte Völker vor kurzem bei einem Vortrag zum Thema „Mit Belastungen besser umgehen können“ in der Urania. Deshalb kann es heilsam sein, die eigenen Reaktionen auf „Stressoren“ besser kennen zu lernen. Zahlreiche Methoden zur Stressreduktion setzen folglich bei der Verbesserung der Selbstwahrnehmung an.

Die wiederum beginnt mit der Nähe zum eigenen Körper. Eigentlich ist er für den Umgang mit Anforderungen und sogar mit Gefahren gut gerüstet: Die „Stresshormone“ Adrenalin und Cortisol machen uns für Kampf oder Flucht tauglich. Wenn sie vermehrt ausgeschüttet werden, treten andere Lebensfunktionen wie Verdauung, Schlaf oder Sex in den Hintergrund. Das Problem des modernen (Büro-)Menschen ist allerdings, dass er in diesem Zustand erhöhter Alarm- und Kampfbereitschaft meist nicht körperlich aktiv werden kann, obwohl sein Körper gerade in diesem Moment darauf eingestellt ist. Umso wichtiger ist es, auch im Berufsalltag immer wieder für kleine Bewegungseinlagen zu sorgen, und sei es nur durch das Motto „Treppe statt Fahrstuhl“.

Am Ende eines Tages sollte die besinnliche Rückschau stehen, empfiehlt Völker. „Wenn wir bewusst leben wollen, ist das ein wichtiges Instrument.“ Es kann helfen, sich selbst auf die Schliche zu kommen, Zeiträuber zu erkennen und Selbstüberforderung zu stoppen. Vor allem, wenn sich auch grundsätzliche Fragen an die Tagesbilanz anknüpfen: Welche Ziele habe ich überhaupt im Leben und wie kann ich Zeit und Energie so einteilen, dass ich meinen Bedürfnissen besser gerecht werde?

Zu den inneren Belastungsquellen zählen nicht zuletzt ständige, chronisch gewordene Sorgen. In der Fantasie lassen die Sorgen uns vielfach Krankheit, Unfälle, menschliche Verluste und materielle Not erleben, die glücklicherweise in der Realität nie eintreten. Statt immer nur das Schlimmste zu befürchten, könnte man sich umgekehrt auch fragen, was es eigentlich ist, das uns trotz vielfältiger Belastungen meist doch gesund bleiben lässt.

Der amerikanische Soziologe Aaron Antonovsky prägte dafür zu Beginn der 70er Jahre den Begriff „Salutogenese“. Und er kam zu dem Schluss, dass es das „Kohärenzgefühl“ ist, was den Menschen vor allem bei der Stange hält, also das Vertrauen darauf, kraft seiner Persönlichkeit Schwierigkeiten meistern zu können. Dass negativer Stress viel mit der Erschütterung dieses Urvertrauens in die eigenen Fähigkeiten zu tun hat, hatte schon der Begründer der Stressforschung Hans Selye festgestellt: „Gewisse seelische Faktoren, etwa die Enttäuschung, sind besonders geeignet, Stress in Distress zu verwandeln.“ Ob man sich Selbstvertrauen und das Kohärenzgefühl, die dagegen helfen, antrainieren kann, ließen beide Forscher seinerzeit allerdings offen.

Heute gilt als sicher, dass das Erlernen von Verfahren zur körperlichen Entspannung dabei hilft, in akuten Belastungssituationen die Ruhe zu bewahren. Mit den Verfahren der Kinesiologie etwa (wörtlich: Lehre von der Bewegung) versuchen Therapeuten, muskulären Dysbalancen auf die Schliche zu kommen. Auch Elemente der Meditation, die aus der zen-buddhistischen Tradition kommen, wurden zu Programmen der „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ zusammengestellt. Der amerikanische Mediziner Jon Kabat-Zinn hat schon in den 70er Jahren begonnen, solche Meditationsformen losgelöst vom religiösen Kontext zur Rehabilitation von Patienten einzusetzen. Allein die Fähigkeit, Körperempfindungen, Gedanken und Gefühle aufmerksam wahrzunehmen, ohne sie sofort zu werten, führt demnach schon zu mehr Gelassenheit.

Adelheid Müller-Lissner

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