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Berlin: Manfred Semmler (Geb. 1945)

Seine Rente reichte nicht zum Leben, also begann er seine Alterskarriere als Barde in Istanbul

Auf einem Hügel in Istanbul steht ein rosa Mietshaus in italienischer Bauweise. In diesem Haus wohnte bis vor kurzem Manfred Semmler, ein kräftiger, helläugiger Deutscher mit längst ergrautem, zum Zopf gebundenen Haar.

Oft sah man ihn zu später Stunde hügelan steigen, unter dem Arm seine Gitarre. Dann kehrte er zurück von seinen Auftritten in den Hotels und Restaurants der Stadt, in denen er türkische Volkslieder sang. Die Sprache und die komplizierten Rhythmen beherrschte er, als wäre seine Wiege schon im 9/8-Takt geschaukelt worden.

Auf dem Hügel angekommen, begab er sich auf seinen Balkon. Dort hatte er drei Satellitenschüsseln angebracht, mit deren Hilfe er den arabischen, amerikanischen und europäischen Sendern ihre Nachrichten ablauschte. Bis zum Morgengrauen pflegte er dort zu sitzen, lauschte, rauchte, schaute auf den nachtglitzernden Bosporus. Drinnen im Haus schlief Selma, die er auf der Fähre zwischen dem orientalischen und dem europäischen Teil der Stadt kennengelernt hatte.

Sein Wohnhügel befand sich im asiatischen Teil, in Europa hatte Manfred Semmler länger ausgeharrt, als ihm lieb gewesen war.

Er war der Sohn eines Apothekers und einer Apothekerin, Absolvent eines humanistischen Gymnasiums in Berlin-Wilmersdorf und von Anfang an ein Suchender. Erst studierte er Jura wie viele seiner früheren Mitschüler. Dann studierte er Byzantinistik wie sonst niemand, den er kannte. Dann studierte er doch lieber Pharmazie, wie schon seine Eltern und auch seine ältere Schwester. Nach diesem Studium stand er hinter dem Tresen seiner Apotheke und wollte nicht werden wie die, die abends auf ihren Designer-Sofas gegen das schlechte Gewissen, gegen die Leere ihres Daseins antrinken.

Er behielt die Einwegspritzen im Sortiment, auch wenn sie Junkies anzogen. Er stellte unrentable Salben her, auch wenn er damit noch mehr Kunden mit noch mehr Wünschen nach unrentablen Salben lockte. Und als er seine Apotheke schließen musste, arbeitete er eben freiberuflich in der Apotheke eines anderen, ließ sich nicht beirren in seinem Semmler-Leben: stand abends am Mikrofon seiner Band aus Schulzeiten, sang und spielte Gitarre. Schwang sich mehrmals im Jahr auf sein Motorrad und bretterte, besser: semmelte nach Griechenland. Dort staunte man über den Deutschen, der altgriechische Schriften las und neugriechisch parlierte, der an öffentlichen Plätzen Gitarre spielte und sich Volkstänze und Volksmusik beibringen ließ.

Als er meinte, Griechenland von den Wurzeln bis in die feinsten Verästelungen der Gegenwart verstanden zu haben, begann er mit seinen Türkei-Reisen, pirschte sich Richtung Orient.

Sein Wissen und seine Begeisterungsfähigkeit waren von seinen Freunden ebenso gesucht wie gefürchtet. Ein Abend mit Manfred hieß: eine durchwachte Nacht. Ob türkische Bürokratie oder Konstantinopel – nie wurde er müde, von seinen Erfahrungen, seinen Studien zu berichten, nie verging ihm sein Grinsen, das vor allem eines verriet: Lust auf mehr. Noch mehr Geschichten, noch mehr Lieder, noch mehr Tabak, noch mehr Essen, noch mehr Welt.

Seine Rente reichte nicht zum Leben, weder hier, noch dort. Dann lieber dort als hier, entschied er und begann seine Alterskarriere als Barde in Istanbul.

Und plötzlich schien er angekommen. Er, der zweimal Geschiedene, der Suchende, fing auf jener Fähre zwischen Orient und Okzident Selmas Blick auf und wusste, dass er bleiben würde. Bei dieser Frau, in diesem Land.

Sieben Jahre lang waren sie schon ein Paar, als sie die Insel Gökçeada entdeckten. Eine Insel, auf der orthodoxe Christen und Moslems einträchtig zusammenleben. Eine Insel wie eine Utopie.

So stiegen sie von dem Hügel mit dem rosa Mietshaus herab und siedelten um. Wenige Monate später wurde Manfred Semmler krank, kurz und heftig. Die orthodoxe Kirche nahm sich des unorthodoxen Toten an und begrub ihn auf jener letzten Insel, die er als Ort des Friedens ausgemacht hatte.

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