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Zugezogene. Marderhund, Mandarinente, Wanderratte, Chinesische Wollhandkrabbe und Asiatischer Marienkäfer. Der Halsbandsittich oben rechts hat es in Berlin sehr schwer.

© pa/wildlife(3),pa/Arco Im.,pa/ZB,dpa

Marderhund, Mandarinente und Co.: Tiere mit Migrationshintergrund

Sie kommen aus der Ferne und machen in Berlin nur Ärger. Oder doch nicht? Eine Verteidigung von exotischen Tieren, die es sich in der Hauptstadt heimisch machen.

Zum Beispiel Harmonia axyridis, der Asiatische Marienkäfer. Gehört hier gar nicht hin, breitet sich rasant aus, hat meist 19 statt sieben Punkte auf den Flügeln, und noch schlimmer: verdrängt den heimischen Marienkäfer. Wenn wir da nichts unternehmen, glauben manche besorgte Tierschützer, gibt’s irgendwann nur noch den Asiatischen, und das kann ja wohl niemand ernsthaft wollen.

Eingewanderte Tiere genießen keinen guten Ruf. Angeblich bringen sie ganze Ökosysteme durcheinander, gefährden alteingesessene Arten, schaden der Landwirtschaft. Weil der Asiatische Marienkäfer in Monaten, in denen es nicht genug Blattläuse gibt, auch über europäische Artgenossen herfällt, wurde er in deutschen Zeitungen schon als „gefährlicher Kannibale“, „aggressiver Eindringling“ und „Käfer mit großem Zerstörungspotenzial“ geschmäht. Da will die Studie nicht so recht ins Bild passen, die neulich am Berliner Julius-Kühn-Institut veröffentlicht wurde. Demnach konnten die Forscher keine Anzeichen für eine Ausrottung heimischer Arten feststellen, im Gegenteil: Der traditionelle Siebenpunktler sei in seiner natürlichen Umgebung „sehr konkurrenzstark“.

Früher nannte man die Eindringlinge „Invasoren“, inzwischen verwenden Biologen den weniger wertenden Begriff „Neozoen“. Dem Image in der Bevölkerung hat es nicht geholfen.

Wann immer die Bedrohlichkeit eingewanderter Tierarten aufgezeigt werden soll, muss als Negativbeispiel der Nordamerikanische Waschbär herhalten. 1945 entkamen Dutzende Tiere aus einer Pelzfarm bei Strausberg. Lange hielt sich das Gerücht, ein Bombenangriff habe das Gebäude beschädigt und so den Tieren die Flucht ermöglicht. Tatsächlich gab es keine Bomben, der Farmer hatte kein Geld für Tierfutter mehr und öffnete einfach die Tore. Allein im Berliner Stadtgebiet leben inzwischen 600 Exemplare, verteilt auf sämtliche Bezirke.

Die rasant wachsende, inzwischen deutschlandweite Population hat Ängste geschürt. Waschbären würden exzessiv Vogelnester plündern und ganze Arten auslöschen, hieß es schon in den 1960er Jahren. Die Anzahl der Vogelarten, die in der Zwischenzeit von Waschbären ausgelöscht wurden: null.

Für Gelassenheit im Umgang mit Zugezogenen plädiert der Rostocker Zoologe Ragnar Kinzelbach, die Neozoen sind sein Spezialgebiet. Er sagt: Diejenigen, die am meisten über Eindringlinge jammern, haben in der Regel von der heimischen Tierwelt überhaupt keine Ahnung. Kinzelbach sieht die Einwanderer als Projektionsfläche für „gesellschaftliche Ängste“, die Sorge um die deutsche Fauna entspringe oft vagen Beschützerinstinkten. Wer hört, welchen Irrationalitäten eingewanderte Tiere ausgesetzt sind, muss unweigerlich an den Umgang mit menschlichen Migranten denken.

Der brutale Marderhund frisst in Wahrheit Kartoffeln

Zugezogene. Marderhund, Mandarinente, Wanderratte, Chinesische Wollhandkrabbe und Asiatischer Marienkäfer. Der Halsbandsittich oben rechts hat es in Berlin sehr schwer.
Zugezogen: Marderhund, Mandarinente, Wanderratte, Chinesische Wollhandkrabbe und Asiatischer Marienkäfer. Der Halsbandsittich oben rechts hat es in Berlin sehr schwer.

© pa/wildlife(3),pa/Arco Im.,pa/ZB,dpa

Von den 60 000 Tierarten in Deutschland, sagt Ragnar Kinzelbach, seien tatsächlich nur etwa 300 als Neozoen einzuordnen, von denen wiederum bloß 20 problematisch seien. Der Zoologe fordert deshalb Einzelfallprüfungen und die Einrichtung einer behördlichen Monitoringstelle. Denn nur, wer eingewanderte Arten über einen längeren Zeitraum beobachte, könne ihre Schädlichkeit beurteilen. Kinzelbach kann das sehr anschaulich an zwei vermeintlichen Raubtieren erklären, die sich beide in Berlin etabliert haben: der Marderhund und der Amerikanische Nerz. Vor Jahren glaubten Biologen noch, der aus Russland eingewanderte Marderhund sei hochgradig gefährlich für das deutsche Ökosystem. Nach Magenuntersuchungen überfahrener Exemplare musste das Bild revidiert werden: Das Tier ernährt sich hauptsächlich von Kartoffeln und Mais – und kann gar nicht klettern, kommt also nicht einmal theoretisch an Baumnester heran. Der Amerikanische Nerz dagegen, Mink genannt, entpuppte sich als übler Schädling, der in Uferzonen wütet und etwa die Küken von Blesshühnern frisst.

Davon abgesehen müsse man manchmal auch einen Schritt zurücktreten, um einordnen zu können, sagt Kinzelbach: Ein Ökosystem sei nun mal kein Zustand, sondern ein Prozess – Veränderung daher normal und außerdem selten einseitig. Die Population des einst gefürchteten Marderhunds etwa sei jüngst regelrecht eingebrochen, schuld sind die Krankheiten Staupe und Räude. Die Natur ist sehr gut darin, „Dinge zurechtzuruckeln“, sagt Ragnar Kinzelbach. Der europäische Siebenpunkt-Marienkäfer zum Beispiel, den viele Deutsche so dringend vor dem Asiatischen retten möchten, breitet sich gerade in Nordamerika aus.

Was ebenfalls übersehen wird: Die allermeisten Einwanderungsversuche scheitern. Etwa der des Halsbandsittichs. In den 1990er Jahren brüteten zahlreiche entflogene Tiere in Berlin, allein in Dahlem ließen sich fünf Stück nieder. Seit einigen Jahren ist die Population verschwunden, anders als in Wiesbaden oder Köln, wo mittlerweile Kolonien mit jeweils rund 1000 Sittichen leben. Vermutlich ist der Berliner Winter doch zu kalt, außerdem gibt es enorm viele Raubvögel. Berlins Wildtier-Beauftragter Derk Ehlert findet in den Nestern von Wanderfalken immer wieder verdächtige Metallringe: Überbleibsel entflogener Wellensittiche, Nymphen- oder eben Halsbandsittiche. Solche Vögel haben im Berliner Luftraum eine Lebenserwartung von zwei bis drei Stunden, sagt Ehlert.

Stark vermehrt hat sich dagegen die Kanadagans: 1983 floh eine Handvoll Exemplare aus dem Käfig eines Tegeler Kleintierzüchters, inzwischen gibt es über 100 Stück, man findet sie im Oberhavelbereich, in Köpenick, vergangenes Jahr kurzzeitig auch im Tiergarten. Noch erfolgreicher verlief die Ansiedlung der farbenprächtigen Mandarinenten: 1945 entkamen einige wenige aus dem Zoologischen Garten, heute bevölkern sie den Schlosspark Charlottenburg, die Pfaueninsel und den Park Sanssouci in Potsdam. Mindestens 800 Vögel sind es wohl. Und nein, sagt Derk Ehlert: Die nehmen keiner deutschen Ente Lebensraum weg, da könne man noch so gründlich forschen. In ihrer alten Heimat Asien haben die Bestände der Mandarinente dagegen stark abgenommen. Wenn japanische Ornithologen Berlin besuchen, wollen sie nicht das Brandenburger Tor und die Museumsinsel sehen, sondern ihre Enten.

Es werden ganz sicher weitere Arten nach Berlin kommen. Und das dürfen die auch ruhig, sagt Zoologe Ragnar Kinzelbach. Nach der letzten Eiszeit gab es hier schließlich praktisch überhaupt keine Tiere mehr, die mussten erst nach und nach zurückkehren, und es sind noch genügend Ressourcen da. Wissenschaftlich ausgedrückt heißt das: Die Region Mitteleuropas ist noch lange nicht abgesättigt. Oder mit Kinzelbachs Worten: Da hat die Natur noch einiges zurechtzuruckeln.

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