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Berlin: Marianne Emrath (Geb. 1936)

Sie wollte nicht allzu viel Vernunft walten lassen

Zuweilen ist es nicht einfach, einem Menschen in den Erinnerungen anderer zu begegnen. Die Freunde und Freundinnen hatten sie so lebhaft vor Augen, als wäre sie nie fortgegangen. Was gibt es da zu erzählen, Marianne war einfach Marianne, so ein wunderbarer Mensch! Wer sie kannte, hatte seine Freude an ihr.

Die zwei Gesichter dieser Frau. Über ihren Kummer redete sie selten. Kaum jemand hat sie weinend oder wütend gesehen. Wenn Tiere gequält wurden, dann geriet sie in Rage. Unter Brücken spazierte sie ungern hindurch. Da wurde sie halsstarrig, denn die Erinnerungen kamen hoch. An die Flucht aus Borgsdorf, als die Bomben auf Oranienburg fielen. Ihre Mutter wurde schwer verletzt bei den Angriffen der Flieger, ihr kleiner Bruder, die jüngere Schwester, beide starben. Sie selbst wurde am Fuß verletzt.

Ihre Eltern wurden enteignet, ihr Haus erstand später eine Schulfreundin. Marianne prozessierte nach dem Mauerfall jahrelang vergebens, es blieb verloren. Über diesen Verlust sprach sie selten.

Wenige wussten von ihrer Fehlgeburt, von der schlimmen Operation danach. Sie würde nie Kinder bekommen können, sagte man ihr damals. Und die Bluttransfusion habe leider zu einer Hepatitis-Infektion geführt. Daran starb sie schließlich. Die wenigsten wussten, wie lange schon sie auf ihren Tod hinlebte. „Wenn ich sterbe, sterbe ich.“

Die meisten kannten Marianne, die Salondame, die Hüterin der Schätze. Undurchdringlich schön ihre Miene, schmale, geheimnisvolle Augen. Sie hielt auf sich, behängte sich gern mit Schmuck, fertigte ihn selbst. Was Hülle ist, war ihr wichtig. Kostüme, Kleider, Stoffe, aus aller Herren Länder. Sie erfreute sich gern selbst. „Was greif ich da aus dem Schrank …“ Es war jedes Mal eine Überraschung, schwärmt der Künstler Ben Wagin, sie aus ihrem Atelier am Kurfürstendamm abzuholen. Mehr noch als ihre Schönheit verzauberte die Frische ihrer Erscheinung, etwas, das nicht vom Alter abhängig ist, mehr von der Geschicklichkeit, sich zu inszenieren.

West-Berlin, nach dem Mauerbau. „Wir waren doch wie die Affen im Zoo“, erinnert sich Ben Wagin, „wir mussten uns selbst einen Zirkus vormachen, dass uns nicht die Füße einschliefen.“ Inseltheater. Als es ihr zu viel wurde, zog sie sich an den Bodensee zurück, unterrichtete Kinder in einem anthroposophischen Internat, und kam dann doch wieder nach Berlin.

Sich ändern, sich wandeln, sie liebte es, sich mit Malern, Bildhauern, Musikern zu treffen. Sie mochte gern kluge Menschen, lud gern ein, unüberschaubar viele Gäste. Der Basar zur Adventszeit war ein jour fixe. Der Samowar wurde angeheizt, Gebäck gereicht. Sie erzählte von ihren Reisen nach Indien, China, Südamerika, Iran, Afghanistan, Mexiko, Bali, eine Dame von Welt.

Viele Jahre arbeitete sie als Kostümbildnerin für Film und Theater. Sie mochte Schauspieler nicht sonderlich, die waren ihr oft zu dumm, aber sie mochte es, Schauspieler zu drapieren. Jedes Kostüm ein Unikat, Stücke, die oft einen unglaublichen Aufwand in der Herstellung beanspruchten. Was dazu führte, dass sie nach dem Mauerfall ihre Arbeit verlor, weil billigere Kräfte aus dem Osten engagiert wurden. Sie empfand das als Befreiung.

Fortan gab sie Unterricht im Nähen, nähte selbst auf Bestellung und kümmerte sich um ihre Sammlungen. Theaterkostüme, Trachten, Biedermeierkleider und Accessoires, ein gewaltiger Fundus. Vom Fußboden bis zur Decke lagerten Dinge, die Wände behangen mit asiatischen Marionetten, die Vitrinen überladen mit Schmuck aus Haaren, Korallenketten, Silberbestecken. „Hör bitte auf“, bat ihr Lebensgefährte, aber sie zog weiter über die Trödelmärkte. Drei Keller voll, ein orientalisches Warenlager, aber sie ließ nicht ab davon. Armbänder, Broschen, Schirme aus Seide, alles geordnet, beschriftet, Granatschmuck, Serviettenringe, Perlenstickereien. Das eine hat sie verkauft, um das andere erwerben zu können.

Sie konnte auch nicht aufhören, schöne Dinge zu sammeln, nur weil der Tod nahte. Seit 2005 wusste sie, dass es zu Ende gehen würde. Aber in ihren Lebensgewohnheiten wollte sie nicht allzu viel Vernunft walten lassen. So schien es manchen, als spiele sie ihre Gebrechen. Und viele Freunde wundern sich noch immer, wo sie nun eigentlich geblieben ist. Gregor Eisenhauer

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