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Berlin: Marianne Wossidlo (Geb. 1937)

„Ich bin keine Pfarrfrau. Ich bin Ärztin!“

Eine Frau tritt aus der Umkleidekabine. Sie dreht sich ein wenig vor dem Spiegel, zupft am Saum des Kleides und an den Ärmeln. „Prima!“, flötet es da. „Sitzt doch prima!“ Zufrieden legt die Verkäuferin die Hände in ihre Hüften. Und lässt sie erschrocken gleich wieder sinken, als dicht neben ihr eine Stimme ertönt: „Das sitzt überhaupt nicht. Sehen Sie nicht die Falten in der Taille?“ Es spricht der Ehemann der Kundin.

Nie, kein einziges Mal während der vergangenen 50 Jahre, hat Marianne ein Kleid ohne Christian ausgesucht. Noch heute erinnert er sich an jenes, das sie auf dem Ball in Heidelberg trug, eng am Körper liegend und mit Silberfäden durchwirkt. Als sie erst Boogie-Woogie tanzten und dann, beim Blues, näher aneinanderrückten. Als sie sich Ringe, die nur golden glänzten, kauften, um in einem Hotel nicht sofort abgewiesen zu werden, ein Paar ohne Trauschein, so weit kommt’s noch. Als sie diesen langen, warmen Sommer verbrachten, in dem ihre Lehrbücher zugeklappt blieben. Bis der Herbst kam und sie die Bücher wieder aufschlugen, Christian seine theologischen, Marianne ihre medizinischen. Sie hatten ausgemacht, zu Ende zu studieren, sich erst dann die Ringe aus Gold an die Finger zu stecken. Marianne ging zurück nach Gießen, woher sie gekommen, wohin sie als Kind mit ihrer Mutter und den Brüdern aus Königsberg geflohen war. Während ihr Vater als Kriegsgefangener auf einem offenen Güterwagen erfror.

Heidelberg war für Marianne die Möglichkeit, für eine Weile aus Gießen zu verschwinden, sie mochte die Stadt nicht, die Erinnerungen an die Bombennächte, die Schreie, das panische Rennen, die bleierne Stimmung später.

Sie zogen nach Braunschweig, Christian beendete die Ausbildung zum Pastor, Marianne promovierte, übernahm eine Station im städtischen Krankenhaus und bekam ihren ersten Sohn.

Von der Stadt ging es weiter aufs Land, in ein Dorf bei Königslutter, wo Christian seine erste Pfarrstelle übernahm. Eine ziemliche Umstellung für Marianne. Denn für die Dorfbevölkerung stand außer Frage, dass sie die neue Pfarrfrau sein würde. Aber da hatten sie sich geirrt: „Ich bin die Frau eines Pfarrers, aber keine Pfarrfrau. Ich bin Ärztin!“ Die Dorfleute murrten. Und murrten erst recht, als sie Marianne in einem Minirock die Straße entlangspazieren sahen. Nur die jungen Mädchen freuten sich: Was die Frau Pastor kann, können wir auch!

Nach fünf Jahren zogen sie weiter, nach Berlin und zu viert, denn inzwischen hatten sie einen zweiten Sohn bekommen. Berlin, zu Beginn der Siebziger, Familie und Freunde guckten ungläubig: Ihr wollt in diese graue, eingemauerte Stadt? Sie wollten. Denn hier war es auch bunt und wild, bunter und wilder sogar als anderswo. Vielleicht nicht in ihrer Gegend, in Neu-Tempelhof – Kirche, Reihenhaus, Garten – aber im Zentrum war man schnell. Marianne arbeitete als Praxisvertretung, diagnostizierte nicht nur den verdorbenen Magen, sondern sah immer den gesamten Menschen. Man bot ihr an, eine Praxis zu übernehmen. Aber wie sollte sie jemanden gründlich abtasten, wenn ihre eigenen Hände schmerzten? Das Rheuma machte ihr mehr und mehr zu schaffen.

Sie begann in der Patientenbetreuung der Verbraucherzentrale. Und kämpfte gegen ihre eigene Krankheit. Ließ Operationen über sich ergehen, trieb Gymnastik, reiste im Februar in die Wärme, nach Kuba und Thailand. Als sie Rentner waren, zogen Christian und sie nach Mitte, dort, wo die jungen Menschen tanzen, saß mit ihm in den Cafés, feierte die Goldene Hochzeit, war noch einmal glücklich in Tunesien und konnte dann nicht mehr. Sie wollte nicht mehr essen, nicht mehr trinken. „Marianne“, sagte Christian, „du weißt, was das bedeutet?“ Und sie antwortete: „Ja.“

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