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Berlin: Marina Gerzowskaja (Geb. 1953)

„Am Ende hängen wir ab von Kreaturen, die wir machten.“

Sie glaubte nicht an ihren Tod. Warum auch? Sie war eine so schöne Frau. Und birgt Schönheit nicht das Versprechen auf Unsterblichkeit? In der Kunst, zuweilen, aber nicht im Leben.

Marina wuchs in Leningrad auf, der schönsten Stadt Russlands. Ihr Großvater war ein angesehener Rabbiner, was der Familie das Leben nach dem Krieg nicht erleichterte. Erst nachdem sie seinen Namen abgelegt hatte, erhielt sie einen Platz an der Kunstakademie.

Schon als Kind war sie sich sicher, Künstlerin werden zu wollen. Die Bühne war zu klein für ihren Ehrgeiz, wenn schon, so entschied sie früh, dann die ganze Welt als Kunstraum.

Der Tochter zuliebe zogen ihre Eltern Mitte der siebziger Jahre nach Moskau, aber der Elan derer, die im folgenden Jahrzehnt zum Aufbruch drängten, stieß sich an der Sturköpfigkeit der Bonzen, die Freiheit nur als die Freiheit der Bereicherung begriffen. „Die Perestroika hat mir nichts gebracht“, bilanzierte sie. Ihre Ausstellungen waren in aller Munde, sie galt als eine Ikone der hauptstädtischen Avantgarde, ihre Arbeiten wurden von renommierten Sammlern und Museen gekauft – aber sie stand stets unter genauer Beobachtung der Staatsmacht. In ihren frühen Bildern ist von dieser unsichtbaren Fußfessel wenig zu spüren.

Sie feierte anfangs in ihren Arbeiten eine ganz naive Freude am Körper, denn „das ist es, was mich vor allem interessiert. Der menschliche Körper zunächst und vor allem – als Form. Als Träger von Energie“. „Fleshless Erotica“, so der Titel einer Ausstellung, die den Zensoren keineswegs so fleischlos schien.

Noch in Moskau wandte sich Marina dem Computerdesign zu, sie begriff früh, wie die digitale Kunst unsere Wahrnehmung verändern, befreien würde. „New Identities, New Forms“, sie ordnete Körper in schwebenden Konstellationen, ein Reigen schwereloser Objekte, der den Zauber virtueller Welten verführerisch lebendig werden ließ: Schöne neue Welt der Avatare.

Die Kunst erobert die Realität – und überwältigt uns mit Illusionen, die immer lebenswirklicher werden. Mit der Erkenntnis wuchs die Angst: „Am Ende hängen wir ab von Kreaturen, die wir machten.“

Der Golem ist eine dieser künstlerischen Inkarnationen der Urangst des Schöpfers vor seinem Geschöpf, und Marina verlieh ihm, der alten jüdischen Legendenfigur, eine moderne, computeranimierte Gestalt. „Dieser neue Golem wird die Einsamkeit dieser neuen Welt der Biotechnologien, Genmanipulationen, Computerisierung und Massenmedien verspüren. Gleichzeitig erringt er eine begrenzte Willensfreiheit und wird selbst zu einem, der Fäden ziehen möchte ... Der Golem des 21. Jahrhunderts träumt ebenso von Freiheit wie seine literarischen Vorgänger und begibt sich in Konkurrenz zu seinem Schöpfer.“

Marina Gerzowskaja begriff und gestaltete die Krankheit der Moderne als eine unaufhaltsam fortschreitende Auszehrung der Seele – und erkrankte selbst unheilbar an Krebs. Sie wagte einen Neuanfang und zog nach Berlin. Die Konkurrenz störte sie nicht, im Gegenteil, sie suchte den Austausch und vertraute ihrem eigenen Stil.

Und sie arbeitete unablässig. Selbst als sie kaum mehr stehen konnte, als sie zu schwach für eine erneute Chemotherapie war, ließ sie nicht ab von dem Versuch, die Physiognomie unserer Zeit in ihre Bildern zu bannen. Aufgeben war nicht ihre Art. Sie wollte sich nicht in die Knie zwingen lassen vom Schicksal, obwohl die Silhouetten und Schattenrisse der einst so lebensfroh porträtierten Körper sich nunmehr zum Totentanz gruppierten. In ihren letzten Bildern sah sie sich umstellt von Masken. Der Traum von der absoluten Gestaltbarkeit der Welt war zum Albtraum geworden. Gregor Eisenhauer

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