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Berlin: Marlies Dollmann (Geb. 1942)

Nachts schliefen sie im billigen Hotel ihren Glücksrausch aus

Weißt du noch?“, fragte sie ihre alte Freundin Theda bei Kaffee und Zigaretten auf dem Balkon, und erinnerte sich an die ersten Jahre in Berlin. 1967 war die Buchhändlerclique in die Stadt gezogen: Marlies mit dem quirligen Johannes, genannt Jean- Jacques, und Theda mit Riewert, dem eifrigen Sammler linker Literatur.

An der Buchhändlerschule in Frankfurt hatten sie sich kennengelernt. Eine Parisreise rundete die Erfahrung des Kursus lebenspraktisch ab: Bohème, Existentialismus, Straßentheater und die heimliche Verlobung an der Seine. Am Tag malten sie Kreidebilder auf das Pflaster und spielten Flöte, abends gingen sie mit dem Klimpergeld ins Bistro, nachts schliefen sie im billigen Hotel ihren Glücksrausch aus.

Marlies und Jean-Jacques kamen als Erste in Berlin an. Sie bezogen eine Wohnung am Stuttgarter Platz. Im Nebenhaus tagte die Kommune 1. Jean-Jacques zog mit roter Fahne von Demonstration zu Demonstration und jobbte nebenbei bei Kiepert. Wie Jean-Paul Belmondo in „Außer Atem“ strich er sich mit dem Daumen über den Mund. Marlies, die in der Büchergilde arbeitete, trug ihre Haare kurz wie Jean Seberg.

Als Tochter Gesa geboren wurde, bezogen sie mit Theda und Riewert zwei nebeneinander liegende Wohnungen in Kreuzberg. Zum zweiten Zuhause avancierte der Buchhändlerkeller, in dem Riewert arbeitete: Diskussionen bis tief in die Nacht mit Schriftstellern und politischen Freigeistern. Marlies wäre gern öfter dabei gewesen, auch in Ost-Berlin, wo sie sich mit Künstlern trafen. Aber sie musste morgens früh zur Arbeit, und dann war da noch das Kind.

In der neuen Wohnung in Moabit begann für Marlies, wie sie später sagte, die schönste Zeit. Zunächst musste sie noch Jean-Jacques, der sie mit einer anderen betrog, vor die Tür setzen. Die neue Hausgemeinschaft ließ ihn schnell vergessen. Sonntägliches Frühstück reihum, Hof- und Geburtstagsfeste, jeder war für jeden da. Nachbarin Ulle wurde eine neue, enge Freundin. Abends gingen sie ins Fudschi, um zu diskutieren und Verehrer auszugucken. Sie entschied sich aber doch für einen Kollegen aus der Buchhandlung, Norbert, mit dem gemeinsam sie den Job kündigte, um ein eigenes Geschäft zu übernehmen – in Lübeck. Die 16-jährige Tochter blieb bei Freunden in Berlin zurück.

Der Laden in Lübeck lief gut an, doch die Beziehung zu Norbert bekam Risse. Er sprach dem Alkohol mehr zu als ihr. Marlies trennte sich, führte den Buchladen allein weiter, richtete ein Regal mit Avantgarde-Literatur ein, organisierte Lesungen, lud Walter Kempowski regelmäßig ein und gab sich alle Mühe, auch ihm hin und wieder ein Lächeln abzuringen. Obwohl sie über dem Laden wohnte, war er ihr eigentliches Zuhause. Jeden Morgen, lange vor der Öffnung, setzte sie sich an den runden Tisch, stützte den Kopf auf die Hände und las. Sie empfahl nur Bücher, die sie selbst gelesen hatte.

2006 musste sie den Laden schließen und zog mit winziger Rente nach Berlin zurück. Aber die Stadt war nicht mehr die alte, Freunde waren fortgezogen, eine Hausgemeinschaft gab es nicht, dafür einen Nachbarn, der sich über jedes Geräusch beschwerte. Zwei Tage in der Woche half sie in einem Antiquariat und sortierte Bücher nach Rubriken. Ab und an ging sie mit Riewert in den Buchhändlerkeller oder traf sich mit Theda auf ihrem Balkon zum Plausch. Ihre Tochter hatte inzwischen selbst Kinder und lud sie zu Familienausflügen ein. Doch Wichtiges fehlte, ein Partner, eine Herausforderung, die Kraft für einen Neuanfang.

Als nach einer Operation die Schmerzen nicht nachließen, entdeckten die Ärzte einen gefährlich wuchernden Krebs. Die Zeit reichte gerade so, sich von allen zu verabschieden. An einem lauen Novembermorgen starb Marlies im Hospiz. Ein leises Lächeln lag auf ihren Lippen, als hätte sie eben noch in einem guten Buch gelesen. Stephan Reisner

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