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Berlin: Martin Mohr (Geb. 1946)

"Hastend durch Paradiese, schlendernd durch Höllen"

Von Julia Prosinger

Im Sommer 1986 war Martin noch mit Angelika zusammen. Im Sommer 1986 war Martin schon mit Christiane zusammen.

Jetzt, Wochen, nachdem er gestorben ist, viele Jahre, nachdem diese Beziehungen vorbei sind, finden die beiden Frauen heraus, dass sie einige Monate zeitgleich seine Freundinnen waren.

Sie sitzen am Wassertorplatz in dem Café, das Martin einst führte, vor dem Haus, in dem Martin mehr als 30 Jahre wohnte, und erzählen aus seinem Leben. Sie lachen. „Bei Martins Beziehungen gab es keine klaren Cuts“, sagt die eine. „Fließende Übergänge“, sagt die andere. Alles andere hätte er spießig gefunden.

„Spießer“ schimpfte Martin auch seinen Bruder im Streit. Weil der verheiratet war und angestellt. Wer kleingeistige Fragen stellte, bekam den Beinamen Tante.

Manchmal stand Martin am Fenster im vierten Stock dieses Hauses am Wassertorplatz und rief hinunter auf die Straße: „Das ist eine Anstalt.“ Dann war ihm wieder die Klüngelei des Vereins, den er mitgegründet hatte, zu viel geworden.

1977 hatte eine Gruppe von Kreuzbergern zusammen mit Architekten und Studenten der Technischen Universität begonnen, eine Häuserreihe zu renovieren. Sie gründeten StuK e.V., Studenten und Kreuzberger. Sie rissen alte Öfen ab, schliffen Dielen. Wer mithalf, konnte günstig dort wohnen.

Einmal rauschte Martin während der Bauarbeiten betrunken durch ein unfertiges Treppenhaus. Schädelbruch. Statt zum Arzt zu gehen, rollte er sich in die Badewanne. Sein Allheilmittel.

Wenn er traurig war, ging er gern in die Badewanne, „zum Regredieren“, wie er sagte. Grundlos schwere Tage, das kannte Martin. „Hastend durch Paradiese, schlendernd durch Höllen“, schrieb er in eines seiner vielen Notizbücher.

Er erinnerte sich an seinen manisch-depressiven Vater. Der war traumatisiert aus dem Zweiten Weltkrieg gekommen und arbeitete als Arzt in Coburg. Dort wurde Martin am 2. Juli 1946 geboren. Der Vater trank, betrog die Mutter mit der Sprechstundenhilfe, trank noch mehr, verlor seine Kassenzulassung, die Kinder kamen in ein Internat, zurück nach Hause, wieder in ein Internat. Martin wurde zum Gefährten des Vaters, Freundesersatz, trank mit, wenn der Vater Cognac trank, fuhr das Auto nach Hause, wenn der Vater zu betrunken war. Als Martin 13 war, starb der Vater an einer Überdosis Tabletten.

Manchmal kannte Martin die Gründe dafür, dass es ihm schlecht ging: Frühling, Pollen, Asthma, seit seiner Kindheit schon. Dann schloss er alle Fenster, verließ das Haus nicht mehr, monatelang. Seit einem Lungeninfekt 2006, seit einem künstlichen Koma stand in seiner Wohnung ein Sauerstoffgerät.

Mit 17 hatte Martin auf einem Rheinschiff gearbeitet. „Ich glaube, er wollte damals von irgendeiner Frau loskommen“, sagt Christiane. Das Abitur machte er nicht. Er wusste, dass er Künstler werden wollte.

Er wurde dann zunächst Bühnenbauer, studierte Ende der Sechziger in Berlin, lernte Ulli kennen. Mit einem orangefarbenen Bulli fuhren sie nach Indien, Ulli hörte auf, Fingernägel zu kauen, Martin legte der Statue einer indischen Göttin zum Spaß die Hand auf die Brust.

Seinen Meister machte Martin an den Bühnen der Hansestadt Lübeck. Dort traf er Angelika, die ihn mit einer Schauspielerin erwischte und erst später herausfand, warum Martin die Wochenenden in Berlin verbracht hatte: Das mit Ulli war noch nicht ganz vorbei. Aber Angelika ging mit ihm zurück nach Berlin, wo sie beide als Selbstständige Filmkulissen bauten.

Zusammen gründeten sie auch das Café Vierlinden, in dem Martins ehemalige Freundinnen jetzt erzählen. Inzwischen heißt es Bohemi. Martin zeichnete Pläne dafür, sie richteten es ein mit Spiegeln, einem roten Plüschsofa, einer Bühne für Kleinkunst. Doch sie waren keine Gastronomen – irgendwann gaben sie es auf, Christiane löste Angelika ab.

Wenn er fröhlich war, schmiedete Martin Pläne: Eine gut gehende Privatreligion wolle er gründen oder eine gut gehende Diktatur. Oder Privatgelehrter werden.

Letzteres gelang, irgendwie zumindest. Romane und Geschichtsbücher hatte er mehr als genug gelesen. Abends fanden sich Künstler und alte Freunde bei ihm ein. Manche hatten keine Wohnung. Manche begleitete er zum Entzug. Manche wollten sich umbringen. Sie kamen, um politische Ideen auszutauschen, Martins Aphorismen zu hören, seinen Rat zu erbitten. Martin nahm sich Zeit und fand für jeden eine Antwort. Wein und Gras waren mal besser, mal schlechter, je nachdem, wie viel Geld da war.

Derselbe Martin hasste es, wenn Christianes Tochter im Essen rumstocherte oder „Scheiße“ sagte. Derselbe Martin legte Wert auf einen Rand beim Zeichnen. Derselbe Martin kaufte schließlich auch die Wohnung am Wassertorplatz, damit er abgesichert sein würde im Alter.

Und so kam es: Als Lunge und Herz immer schwächer wurden, er kaum laufen konnte in den letzten Jahren, da half Karin beim Putzen, Swantje beim Kochen, und Peter brachte Wein. Julia Prosinger

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