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Marzahn

© Steyer

Marzahn: Wohnmaschine mit menschlichem Antlitz

Der Bezirk Marzahn wird 30 Jahre alt – und verliert seine Jugend. Das Durchschnittsalter steigt stetig. In wenigen Jahren könnte Berlins einstige "Kinderstube" zum ältesten Bezirk der Stadt werden.

"Bloß nicht nach Marzahn! Überall hin, aber nicht nach Marzahn!" An diesen Spruch erinnern sich derzeit viele ehemalige und aktuelle Einwohner des nordöstlichen Berliner Bezirkes. Denn anlässlich des 30. Jahrestages der Gründung der riesigen Neubausiedlung aus den damals selbstständigen Ortsteilen Biesdorf, Hellersdorf, Kaulsdorf, Mahlsdorf und Marzahn kramen alteingesessene Bewohner ebenso wie jene, die den Plattenbauten längst den Rücken gekehrt haben, alte Geschichten hervor. Schon beim Beschluss der Ost-Berliner Stadtverordnetenversammlung zur Bildung des neuen Bezirks am 5. Januar 1979 gab es viel Ablehnung und Vorurteile, die sich aber später oft als unbegründet erweisen sollten.

Mitte der achtziger Jahre jedenfalls wurde auf den Straßen, in den Hinterhöfen und in den Eckkneipen in Prenzlauer Berg kein gutes Haar an Marzahn gelassen. "Zu weit draußen", "nur Schlamm und Dreck", "kein Grün" und "alles sieht gleich aus", war zu hören. Und doch drohte im Zuge der sogenannten Komplexsanierung der zwangsweise Umzug in den Nordosten. Alle Mieter mussten raus aus den heruntergekommenen Häusern ohne Bad und Innentoilette, dafür mit Ofenheizung und undichten Fenstern. Die Bauleute, die im Rahmen der "FDJ-Initiative Berlin" aus der gesamten DDR herangeholt wurden, sollten sich frei und ungestört bewegen können.

"Wir wussten damals von Freunden aus Berlin-Mitte, dass so ein Umzug höchst planmäßig erfolgen würde", erinnert sich heute Bernd Glöde, der bis 1986 mit Frau und Kind in der Angermünder Straße gewohnt hatte. "Das ganze Haus wurde nach Marzahn umgesiedelt. Dort wohnte dann jeder mit seinen ursprünglichen Nachbarn wieder Tür an Tür." Ausnahmen gab es nur für über 65-Jährige, Leute mit Beziehungen und einige wenige Glückspilze. Die bekamen frisch renovierte Altbauten in Prenzlauer Berg oder Mitte. Selbst Hohenschönhausen galt damals noch als Privileg, weil hier die Hochhäuser nicht ganz so eng standen und einige architektonische Raffinessen aufwiesen.

Inzwischen hat sich viel geändert

Der Reichsbahner Bernd Glöde zog mit seinen acht Mietparteien schließlich nach Marzahn in die Marchwitzastraße. Und denkt mit positiven Gefühlen zurück. "Nie hätte ich geglaubt, dass man sich so schnell an den Komfort eines Bades, einer Fernheizung oder eines Balkons gewöhnen könnte", sagt der heute 53-Jährige, der vor zehn Jahren in ein eigenes Haus am Stadtrand gezogen ist.

"Natürlich haben wir im Hochhaus alle damals üblichen Dinge wie die gemeinsame Anlage von Grünflächen oder den Ausbau eines Kellers zum Partyraum mitgemacht." Mit der Gleichartigkeit der Bauten habe man sich abgefunden und die Lage mit der Nähe zur Kaufhalle oder zum Kindergarten schöngeredet. Alternativen gab es schließlich kaum.

Kürzlich ist die Familie noch einmal durch Marzahn gefahren und hat sich kaum noch zurechtgefunden. Farbige Wärmedämmungen an den Fassaden, Grünanlagen, Spielplätze und neue Freiflächen, die anstelle abgerissener Plattenbauten enstanden sind, vermitteln einen ganz neuen Eindruck. Neue Einkaufcenter wie das "Eastgate", Elektronik- und Möbelmärkte sind hinzugekommen, während das einst beliebte Kino "Sojus" am Helene-Weigel-Platz und die meisten Geschäfte an der Marzahner Promenade geschlossen sind. Dafür hat sich das Unfallkrankenhaus einen ausgezeichneten Ruf in ganz Deutschland erworben. Die "Gärten der Welt" sind zu einem Erholungsziel für die Berliner geworden.

Die dramatischste Änderung steht Marzahn noch bevor

Bezirksbürgermeisterin Dagmar Pohle (Linke) sieht den seit 2001 fusionierten Großbezirk Marzahn-Hellersdorf als "Metropolenraum im Wandel", ein Ort zum Wohnen und gleichermaßen ein Ort der Wirtschaft und der Arbeit. Stolz weist sie auf 120 neue Arbeitsplätze des Solar-Unternehmen Inventux hin, das vor wenigen Tagen die Produktion aufnahm. Doch die 55-Jährige verschweigt auch die sozialen Probleme nicht, die "heute zu unserer Lebenswirklichkeit" gehören.

Die dramatischste Veränderung steht Marzahn noch bevor. Denn als die Familien aus der Innenstadt in den achtziger Jahren an den Rand zogen, bestimmten Kinder die Straßen und Plätze. 24 Jahre betrug das Durchschnittsalter der Bewohner vor 30 Jahren, heute liegt es bei 41,1 Jahren. 50.000 Menschen haben nach Angaben des Bezirksamtes seit 1992 Marzahn-Hellersdorf verlassen, vor allem junge Leute. Lediglich kleine Siedlungsgebiete wie Biesdorf-Süd verzeichnen einen Zuwachs. Die Zahl der Kinder im Alter bis sechs Jahren ging zwischen 1991 und 2007 von 30.000 auf 12.000 zurück. "Es ist absehbar, dass Marzahn-Hellerdorf in zehn bis 15 Jahren der älteste Berliner Bezirk sein wird", heißt es von der Pressestelle. "Dabei waren wir mal der jüngste Bezirk und die Kinderstube Berlins."

Bernd Glöde hat in seinem alten Plattenbau in der Marchwitzer Straße nur noch einen bekannten Namen auf den Klingenschildern entdeckt. "Nur eine Familie besitzt in dem Haus Kinder", habe ich erfahren. "Doch die stammt aus einem Vorort von Moskau."

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