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Berlin: Mathilde Weinert (Geb. 1937)

„Aber wir verstanden wenigstens die Sprache, wenigstens das.“

Es ist ein bequemer Sessel. Bezogen mit einem hellen, weichen Stoff, mit einem Hocker davor, auf den Mathilde ihre Füße legen kann. Sie setzt sich am späten Nachmittag in den Sessel, schlägt die Erzählungen von Tania Blixen auf, liest eine Weile, schlägt das Buch wieder zu und schaltet den Fernseher ein, eine Frau erklärt, wie man den Garten winterfest macht, Mathilde denkt an ihren Oleander, den sie bald vom Balkon hereinholen muss, für die Schlepperei war doch immer Günther zuständig, aber mit Günther spricht sie nur noch sonntags, wenn sie auf der Bank vor seinem Grab sitzt, sie schaltet auf einen anderen Sender um und dann sieht sie sie wieder, diese Bilder: Menschen in Zelten, hinter Zäunen, in Baracken; rennende Menschen, mutlose Menschen. Sie sieht andere, glatzköpfige, deren gegrölte Sätze sie kaum verstehen kann. Und sie sieht Bürger, die sie gut verstehen kann, die, mit bunten Einkaufstüten in der Hand, kurz anhalten und mit einem Reporter sprechen: „Irgendwann muss doch auch mal Schluss sein mit den Flüchtlingen.“

Es läutet an der Tür. Mathilde öffnet. Ihre Tochter schaut auf einen Sprung vorbei. Gemeinsam gucken sie das Ende der Nachrichten.

„Die Bilder und das Gerede der Leute haben meine Mutter sehr mitgenommen“, sagt die Tochter. „Aber es hat auch dazu geführt, dass sie wieder mehr über ihre eigene Flucht gesprochen hat.“

Mathilde war acht damals, 1945. Acht Jahre lang hatte ihre Welt aus schlesischen Wiesen und Apfelbäumen bestanden, aus warmer Milch mit Zucker, der Lampe, auf deren Schirm eine Katze drei Mäuse jagt. Sie hatte dem Vater dabei zugesehen, wie er Holzscheite unter den Vorsprung am Haus schichtete, der Mutter, wenn sie versuchte, ein störrisches Kalb einzufangen. Mathilde hatte nicht gewusst, dass andere Kinder längst keine warme Milch mehr tranken und keine Blumen pflückten, dass sie längst tot waren, erst abtransportiert und dann vergast. Sie hatte es auch nicht gewusst, als ihre Welt zerfiel, sie mit den Eltern und einem einzigen Rucksack über schlammige Wege lief, auf dem Boden von Zügen kauerte, fror und hungerte und dann auf einem Gutshof im Schwarzwald landete. Der Bauer wies ihnen eine Nische in einer Scheune zu, sie mussten aufs Feld und die Ställe ausmisten und fühlten sich auch sonst wie der letzte Dreck. „Aber wir verstanden wenigstens die Sprache“, sagte sie zu ihrer Tochter, „wenigstens das.“

Sicher hätte Mathilde auch im Schwarzwald bleiben können, sie war mit den Eltern von der Scheune in zwei Zimmer gezogen, sie musste nicht mehr aufs Feld, sondern ging zur Schule, aber mit 17 hatte sie das Land ein für alle Mal satt und fuhr nach Berlin. Sie war wohl die einzige Person in der Stadt, die so etwas wie Erleichterung darüber empfand, Ruinen zu sehen. Sie kam bei einer Bekannten unter und freute sich jeden Morgen beim Aufwachen, bald mit den anderen Menschen die Straßen entlangzuhasten, sich in überfüllte Bahnen zu drängen, die Schaufensterauslagen zu betrachten und abends im Schein der Leuchtreklamen über den Ku’damm zu spazieren. Vielleicht war es auch ein wenig Günthers Schuld, dass sie die Stadt liebte. Ein junger Anwalt, viel zu mager, aber mit sanftem, dunklen Blick, der ihr ein Gedicht zum Geburtstag schrieb. Sie liefen aufs Standesamt und fuhren noch am selben Nachmittag an die Ostsee. Sie fanden eine kleine Wohnung, sie bekamen eine Tochter, sie fanden eine größere Wohnung, sie lasen einander vor, sie hörten Mozart, sie stritten sich und versöhnten sich wieder, doch, das Leben war schön. Ihres zumindest, zumeist.

Mathilde schaltet den Fernseher aus. Sie geht in die Küche und kocht Tee. Während der Tee zieht, sagt sie zu ihrer Tochter: „Hast du gehört, sie suchen ja Leute, die Flüchtlingen eine Unterkunft geben. Ich weiß gar nicht, ob ich so viel Traurigkeit aushalten könnte.“

Im November, wenige Tage nach einem Schlaganfall, stirbt sie.

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