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Klare Worte. Matthias Katsch (47), Absolvent des Canisius-Kollegs, studierte unter anderem Politikwissenschaft und Theologie. Er arbeitet als Managementtrainer.

© Thilo Rückeis

Matthias Katsch: „Wie lange wollt ihr noch Schäfchen sein?“

An der Diktatur des Kirchenstaats und der rigiden Sexualmoral hat die öffentliche Debatte wenig geändert. Der Absolvent des Canisius-Kollegs Matthias Katsch wurde dort selbst Opfer sexuellen Missbrauchs. Hier beurteilt der die Lage ein Jahr nach dem Missbrauchsskandal.

Hat sich die katholische Kirche in Deutschland den mit dem Missbrauchsskandal verbundenen Fragen gestellt? Werden vielleicht sogar schon Antworten gegeben? Leider sieht es bisher nicht danach aus. Es scheint, als störten die unbequemen Opfer nur. Bis heute reagieren die Bischöfe nicht auf die Bitte von Betroffenen zum direkten Dialog.

Im Kern müsste die Debatte, die man ängstlich zu vermeiden sucht, sich um drei Aspekte drehen, die innerlich zusammenhängen: die Ordnungsform der Kirche, ihre Lehren zur Sexualität und der Kitt, der alles zusammenhält: das Geld. Altmodisch gesprochen geht es also um Gehorsam, Keuschheit und Armut – und den Missbrauch an diesen Tugenden zum Zwecke des Machterhalts, den die Hierarchie andauernd betreibt.

Die katholische Kirche ist lange schon eine geistliche Diktatur der Amtsträger, eine meist benevolente Monarchie, die sich den einen oder anderen Hofnarren hält. Sie ist mit dieser Organisationsform sehr alt geworden. Natürlich gab es und gibt es Strömungen innerhalb der Kirche: Linke, Liberale, Ultrakonservative und dazwischen der breite Mainstream. Nur zu sagen haben diese Strömungen der Laien am Ende alle nichts, wenn die Hierarchie entscheidet. In ihrem absolutistischen Zentralismus ist sie ein Anachronismus in der modernen Welt, und für manche stellt sie so zugleich ein Faszinosum dar.

Widerstandslos erdulden die Schäfchen alles, was von oben kommt

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass diese Herrschaft des Klerus schon lange an ihr Ende gekommen wäre, wenn nicht die Mehrheit der Katholiken sie stillschweigend mittrüge. Nicht immer zustimmend, aber im Allgemeinen widerstandslos erdulden die Schäfchen alles, was von oben kommt, denken sich ihren Teil und lassen den Papst in Rom einen guten Mann sein. Es herrscht eine Kultur des „als ob“. Wir tun so, als ob wir eure Lehren befolgten, und ihr tut so, als ob ihr nicht genau wüsstet, dass wir dies nicht tun. Seit Jahrzehnten geht das so.

Ein Vergleich drängt sich auf. Wie vor 1989 in den verknöcherten Diktaturen Osteuropas hält sich der größte Teil der Gläubigen privat nicht an das, was kirchenamtlich verkündet wird, insbesondere in Fragen der persönlichen Lebensführung wie Verhütung, Selbstbefriedigung, vorehelichem Geschlechtsverkehr, Homosexualität, aber auch bei Themen wie der Ökumene. Sie widersprechen aber nicht offen, berufen sich allenfalls auf ihr privates Gewissen. Und die Bischöfe und Priester tun so, als ob sie das nicht wüssten, und geben sich mit dem geheuchelten Gehorsam zufrieden, solange der Widerspruch nicht öffentlich wird.

Doch dieses Arrangement zwischen oben und unten in der katholischen Kirche ist nicht so harmlos, wie es scheinen mag. Denn so dulden die Mainstream-Katholiken auch die Gewalt, die die Kirche ihren Kritikern antut. Das ist nicht nur metaphorisch gemeint, denn es gibt reale Opfer, über die aber innerkirchlich nicht gesprochen werden darf. Nicht nur gemaßregelte, aber immerhin erwachsene Theologen, die ihre Arbeit verlieren, sondern zum Beispiel Hunderte von Priesterkindern allein in Deutschland. Sie werden von der Kirche alimentiert, solange sie verheimlicht werden und die Frauen bereit sind, im Dunkeln zu bleiben. Und dann gibt es die vielen versteckten Homosexuellen in der Kirche, die jetzt als Sündenböcke für die bekannt gewordenen Missbrauchsfälle herhalten sollen.

Am Canisius-Kolleg wurde Matthias Katsch Opfer von sexuellem Missbrauch.
Am Canisius-Kolleg wurde Matthias Katsch Opfer von sexuellem Missbrauch.

© dapd

Die Sexualfeindlichkeit ist die wichtigste Waffe der Hierarchie im Kampf um die Macht in der Kirche. Selbst wenn sie sich anders verhalten, so bewirkt die ständige Drohpredigt der Hirten doch ein latent schlechtes Gewissen bei vielen Gläubigen. Dies hilft, sie zu kontrollieren. Auch innerhalb der Hierarchie werden die vielfältigen Schwierigkeiten des Klerus mit dem Zölibat als Disziplinierungsmittel genutzt.

Priester haben Kinder, Priester haben Frauen, Priester haben Männer, Priester missbrauchen Kinder als Ersatz für nicht gelebte oder nicht lebbare Sexualität. All das geschieht, aber nach außen wird das Ideal der Enthaltsamkeit und der „sexfreien Sexualität“ hochgehalten. Weil es als Organisationsprinzip perfekt ist für eine transnationale Organisation, die von der absoluten Ergebenheit ihrer Kader zusammengehalten wird. Die Kirche ist auf diese Weise heute die größte transnationale Schwulenorganisation der Welt, worauf 2005 ausgerechnet ein Jesuit hinwies, obwohl der Kirche gelebte Homosexualität als Sünde gilt. Mehr Doppelmoral geht kaum. Dabei nimmt dies nicht wunder, wenn man über den deutschen Tellerrand blickt: In vielen Ländern der Erde ist die römische Kirche ein Schutzort für die unterdrückten und verfolgten Homosexuellen. Niemand bedrängt diese Männer, wenn sie nicht heiraten, niemand hinterfragt ihre Liebe zur Musik, zur schönen Kunst, zu Gewändern und Gerüchen. Als Angehörige des Klerus werden sie mit Hochachtung behandelt, sind angesehen, wichtig und oft auch mächtig.

Der Zölibat überfordert viele Männer

Der Preis, den sie zahlen müssen, ist das scheinheilige Verleugnen ihrer Natur. Gelebte Paarbeziehungen zwischen Männern oder Frauen sind ein Übel, verheimlichte, verklemmte oder vertuschte Homosexualität wird geduldet. Diese Diener der Kirche sind die Treuesten der Treuen. Sie verleugnen sich selbst, beteiligen sich gar an der Verteufelung der Sexualität, die sie als für sich unerträglich erfahren haben und stabilisieren so die Diktatur der Hierarchie. Dass sie nun am Pranger stehen für die Taten ihrer überwiegend heterosexuellen Kollegen, die ihre infantile Sexualität an kleinen Jungen ausgelassen haben, ist eine traurige Pointe.

Vielfach wird der Gedanke von Katholiken noch abgewehrt, dass die Sexualfeindlichkeit, die Doppelmoral und die Organisationsformen der Kirche einschließlich des Zölibats innerlich zusammenhängen und etwas mit den Hunderten von Missbrauchsfällen an kirchlichen Bildungseinrichtungen zu tun haben könnten, die jetzt bekannt geworden sind. Doch die kirchliche Lehre zur Sexualität hat den Tätern den Zugang zu ihren Opfern geebnet. Masturbation galt und gilt unwiderrufen bis heute als eine schwere Sünde. Der übersteigerte Korpsgeist der Hierarchie hat dann verhindert, dass Tätern Einhalt geboten wurde, geschweige denn, dass sie der Staatsanwaltschaft übergeben wurden. Das Organisationsprinzip der Kirche ist die Unterordnung. Zusammen mit dem Verzicht auf Sexualität erlaubt dies die Herrschaft weniger hundert Männer an der Spitze über 400 000 Priester und eine Milliarde Gläubige. Im Gegenzug für ihre Treue beschützt die Spitze ihre Mitarbeiter, wenn sie in Problemen stecken.

Doch der Zölibat überfordert viele Männer. Deshalb kann ein Übertreter des Zölibats innerkirchlich mit viel Sympathie und Verständnis rechnen, auch bei den Gläubigen und natürlich von seinen Mitbrüdern, die vielleicht an derselben Front kämpfen. So wurden Taten des Missbrauchs an Kindern vor allem als Sünden des Täters gegen sein Gelübde verstanden. Die Opfer waren dabei gar nicht im Blick. Die Schuldgefühle der Opfer werden durch die Sexuallehre der Kirche noch verstärkt. Später sorgen diese Schuldgefühle dafür, dass die Opfer lange schweigen. Sie fühlen sich schuldig. So schließt sich der Kreis.

Die üppige Finanzausstattung der Kirche korrumpiert

Dazu kommt der Kitt, der alles zusammenhält: Das Geld. Formal versprechen nur die Ordensleute die Armut. Klerus und Hierarchie haben dieses Ideal oft beiseitegelegt. Doch die üppige Finanzausstattung der Kirche korrumpiert. Die Zahlungen der säkularen Gesellschaft und die staatlich eingezogenen Beiträge der vielen Schäfchen dienen vor allem dazu, das innerkirchliche Machtkartell aufrechtzuerhalten. Kein Kirchenmitglied kann bei der Verwendung der vereinnahmten Gelder mitreden.

Die der Kirche oft zugerechneten sozialen Einrichtungen wie die Caritas arbeiten wie moderne Wirtschaftsbetriebe und haben mit den Beiträgen der Gläubigen nichts zu tun. Regelmäßig werden mehr als 90 Prozent der Kosten solcher Einrichtungen direkt vom Staat bezahlt. Ähnlich ist es bei den kirchlichen Krankenhäusern, den Schulen, den Altenheimen.

Diejenigen jedoch, die eigentlich Zielgruppe der christlichen Caritas sein müssten, sind fast aus dem Blick geraten: Statt an die wirklich Armen und Bedürftigen richten sich die karitativen Angebote zumeist an die Mittel- und Oberschicht. Das ist nicht nur haarscharf an den Seligpreisungen des Neuen Testaments vorbei, es ist in einem modernen Sozialstaat schlicht unnötig. Obdachlose, HIV-Patienten, Flüchtlinge erhalten im Verhältnis nur einen Bruchteil der Aufmerksamkeit der Kirche und ihrer finanziellen Mittel. Das Engagement vieler Einzelkämpfer in diesen Bereichen ist hoch zu achten. Doch es ist sicher nicht prägend dafür, wie die katholische Kirche in Deutschland wahrgenommen wird.

Zuhören und sich betreffen lassen statt abwiegeln und verleugnen

Und nun kommen die Opfer der sexuellen Gewalt in Heimen und Schulen und fordern Geld von der Kirche als Anerkennung ihres Leids und zur Bewältigung ihres beschädigten Lebens. Doch wie reagiert die Kirche jenes Menschensohns, der da sagte: Selig sind die Armen? Sie blockt, mauert, verzögert. Zugleich wird betont, es dürften keine Kirchensteuergelder für die Entschädigung der Opfer herangezogen werden. Weshalb nicht? Sind es nicht die Beiträge der Gläubigen zum Unterhalt ihrer Kirche? Hat diese Kirche nicht als Ganzes versagt: die Hierarchie, weil sie vertuschte, und die Gläubigen, weil sie die Hierarchie gewähren ließen? Sollten sie die Folgen jetzt nicht auch gemeinsam bewältigen?

Zwei Mal trafen im vergangenen Jahr Betroffene von sexuellem Missbrauch und Repräsentanten des Jesuitenordens in Berlin am „Eckigen Tisch“ aufeinander, darunter der in

den 70er Jahren verantwortliche Provinzial und seine aktuellen Nachfolger. Sechs Stunden hörten sie zu und stellten sich den Fragen der Opfer, die von ihren Verletzungen ebenso berichteten wie von den vergeblichen Versuchen, damals Gehör zu finden. Diese schwierige Konfrontation war ein historisch bedeutsamer Moment für die Art, wie Kirche kommunizieren könnte: zuhören und sich betreffen lassen statt abwiegeln und verleugnen.

Doch in der Kirche insgesamt wird ein Dialog über die angesprochenen Probleme bislang noch verweigert. Stattdessen reden Hierarchie und Gläubige aneinander vorbei. Wie am Ostersonntag 2010, als alle Welt auf ein klärendes Wort des Papstes zu den Missbrauchsfällen wartete und stattdessen der Vorsteher des Kardinalskollegiums dem Papst die unbedingte Treue der Hierarchie versicherte und die Diskussion um die missbrauchten Kinder als das „Geschwätz des Augenblicks“ bezeichnete.

Wie lange wollen die Katholiken sich Solches noch bieten lassen von ihrem Spitzenpersonal? Wann sagen sie endlich: Genug ist genug? Solange die Gläubigen, die außerhalb der Kirche, im wirklichen Leben sich als verantwortungsbewusste und erwachsene Staatsbürger benehmen, sich innerhalb der Kirche wie unmündige Schafe verhalten, geht die fromme Diktatur weiter.

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