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Mauerfall: Der Ost-Berliner, der die Mauer abriss

Nach ihrem Fall im November 1989 begann Mitte Juni 1990 der Abriss der Mauer. Ein gigantischer und einmaliger Auftrag. Wie das Symbol des Kalten Krieges zu Kies wurde – und ein Ost-Berliner sich freischaufelte.

Das grüne Ungeheuer. So nannten sie ihn, den Eisenkoloss auf dem „Mauerfriedhof“ an der Pankower Brehmestraße. In Sekundenschnelle zermalmte er tonnenschwere Mauerteile zu Schutt. Und brauchte trotzdem fast zwei Jahre, um sich durch den Betonberg zu fressen, der von der innerdeutschen Grenze übrig geblieben war.

Das Ungeheuer war eine Spezialanfertigung, ein Schlagwalzenbrecher, eine Art Walze mit Haifischzähnen, montiert auf ein Betonfundament, gebaut für diesen einen Zweck: die Mauer, die Berlin jahrzehntelang teilte, kleinzumachen.

Auf den Fotos sieht das Maschinenungeheuer mehr grau als grün aus. Karl-Heinz Goldschmidt hat Bilder und Zeitungsausschnitte auf dem Küchentisch ausgebreitet, fast bedächtig, als wären es besonders wertvolle Trophäen. Der große Mann mit den weißen Haaren war der Herr des grünen Ungeheuers. Er leitete die Truppe, die die 45 000 Segmente der Berliner Mauer erst zerschredderte und dann verkaufte. Er hat lange nicht mehr erzählt davon, wie die Mauer zu Kies wurde. Wie sich ein Ost-Berliner freischaufelte in ein neues Leben.

Auf den Fotos ist der Goldschmidt von damals zu sehen. Ein gebräunter Mittvierziger mit dunkelblonden Locken lächelt in die Kamera, die Ärmel seines weißen Hemds hochgekrempelt. In seinen Augen ist Zuversicht zu lesen und etwas anderes. „Da war Genugtuung, dass ich mit dabei war, die Mauer dahin zu bringen, wo sie eigentlich hingehörte – als Baumaterial unter Straßen und Autobahnen“, sagt Goldschmidt. Er klingt wie einer, der eine jahrelang offene Rechnung mit dem Schicksal beglichen hat.

Der Mauerfall dauerte viel länger als nur einen Herbst im Jahr 1989. Als die Zeit der großen Montagsdemos schon vorbei war, die Stasi-Zentralen gestürmt und ausgeräumt waren, die SED-Elite aus der Waldsiedlung Wandlitz vertrieben war, da stand sie immer noch. 155 Kilometer stahlbewehrter Beton, in den die „Mauerspechte“ nur kleine Löcher gerissen hatten. Ein ärgerliches Hindernis, auch ohne bewaffnetes Grenzregime. Und eine zunehmende Unfallgefahr. Aber dass sie verschwinden sollte, war Anfang 1990 noch nicht Konsens.

Gerhard Sälter, Historiker bei der Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße, sagt: „Eine Stadt ohne Mauer konnten sich die DDR-Offiziellen einfach nicht vorstellen.“ Dabei hatte die DDR-Übergangsregierung unter Hans Modrow am 29. Dezember 1989 dem Abriss und staatlich organisierten Verkauf des Bauwerks zugestimmt. Man witterte wohl ein Geschäft: Das erste Kaufangebot eines bayerischen Privatunternehmers war bereits am 10. November 1989 eingegangen. Den Verantwortlichen bei den DDR-Grenztruppen fehlte indes ein Plan zur Umsetzung des Abrissbeschlusses. Gerhard Sälter berichtet von einer paradoxen Nachtaktion am 22. Januar 1990: Nachdem die Grenzer die von Künstlern gestalteten Mauerteile an der Kreuzberger Waldemarstraße abgebaut und für den späteren Verkauf gesichert hatten, flickten sie die entstandene Lücke mit einem zwei Meter hohen Zaun.

„Wir haben die Mauer vorne repariert und hinten abgerissen, keiner wusste mehr so richtig, was Sache war“, erinnert sich auch Thomas Köhler, der seinen Wehrdienst im November 1989 antrat und auch an der Berliner Mauer eingesetzt wurde. Und Goldschmidt wird nur ausgelacht, als er auf einer Geburtstagsparty bei Freunden im Herbst 1989 ankündigt, mit seinem Bagger beim Mauerabriss helfen zu wollen. Richtig geglaubt hat er es damals selbst nicht, sagt er heute: „Aber es ging dann schneller als gedacht.“

Mit der Wahl am 18. März 1990 kommt Bewegung in die Mauerfrage. Der neue Regierungschef Lothar de Maizière bekräftigt am 19. April in seiner Regierungserklärung den Wunsch nach dem Verschwinden der Mauer: „Noch in den nächsten Monaten wird dieses menschenunwürdige Schandmal abgerissen.“ Wenige Tage später legt der Grenztruppenchef einen Zeitplan vor. Offizieller Auftakt ist dann am 13. Juni 1990 in der Bernauer, Ecke Ackerstraße.

Karl-Heinz Goldschmidt fuhr einige Wochen später einfach hin, als er vom Aufruf zur Unterstützung hörte. Die DDR-Grenztruppen hatten weder ausreichend Personal noch genügend Technik, um den Abriss allein zu stemmen. Goldschmidt half in seinem eigenen Kiez, öffnete den Grenzübergang in der Wollankstraße in Pankow.

Dass seine Familie auf der Ostseite der Grenze lebte, war Zufall. Aus Rensburg in Schleswig-Holstein waren die Goldschmidts 1953 in das von den Großeltern geerbte Haus in Berlin-Hoppegarten gezogen. Da war Karl-Heinz Goldschmidt acht Jahre alt. An den Tag des Mauerbaus acht Jahre später erinnert er sich genau: „Da war ich zu Besuch bei entfernten Verwandten in West-Berlin.“ Als er am Abend mit der S-Bahn heimfuhr, war der Bahnhof Friedrichstraße bereits abgeriegelt: „Vom Westen in den Osten gingen die Züge ganz normal, zurück ging nichts mehr.“ Seine Verwandten sah er nicht wieder. Kurz vor Weihnachten versuchte er noch einmal, über die Grenze zu laufen, einfach so. Als ihn Grenzsoldaten ansprachen, gab er auf und drehte um.

„Ich fühlte mich eingemauert, der Freiheit beraubt“, sagt Goldschmidt. Fluchtpläne machte er trotzdem nie, vielleicht, weil er seine Erfolgschancen als Ingenieur nüchtern kalkulierte. Auch im Wendeherbst, als tausende DDR-Bürger auf die Straßen gingen, war Goldschmidt nicht dabei. Nach dem Maschinenbaustudium in Dresden hatte er Arbeit beim Schuttentsorgungsbetrieb „Modernisierung Pankow“ gefunden. Ein zeitloses Geschäft, auch nach der Wende, als der frühere volkseigene Betrieb privatisiert wird.

Der Traumauftrag kommt im Frühjahr 1991: Goldschmidt soll die Arbeitsgemeinschaft „Recycling Grenzanlagen“ leiten, ein Zusammenschluss von drei Baustoff-Recyclingfirmen aus Ost und West zur Wiederverwertung der Mauer. Er sagt sofort zu. In wenigen Wochen wird das beispiellose Unternehmen durchgeplant, der Schlagwalzenbrecher muss eigens dafür gebaut werden. Am 21. März wird das grüne Ungeheuer in Betrieb genommen und von da an elf Stunden täglich gefüttert. 1500 Tonnen Mauer, fast 40 Lkw-Ladungen, zerschreddert es pro Arbeitstag.

Goldschmidt geht in seinem Job auf. Er ist der Erste, der morgens auf die Baustelle in der Brehmestraße kommt. Um sieben Uhr ist er da. Ein Team von rund 20 Mann leitet er. 25 Sekunden braucht das grüne Ungeheuer, um ein Mauersegment – 1,20 Meter breit, 3,60 Meter hoch, 2,75 Tonnen schwer – zu zerbröseln. Danach zieht ein Magnet die Stahlbewehrung aus dem Bruchbeton. Mit Baggern schaufeln die Männer den Schutt in eine Prallmühle, wo er zu noch feinerem Kies zerhauen wird. Es ist eine dreckige Arbeit, eine laute Arbeit, trotzdem kommen viele Zuschauer. Berliner und Touristen klettern über die sich türmenden Halden, um das Ungeheuer in Aktion zu erleben. Oft ist im Sommer 1991 auch die Presse da. Journalisten aus Deutschland und Schweden, Filmteams aus Japan und China wollen die Verschrottung der Mauer dokumentieren. Wenn Goldschmidt das Ungeheuer um 18 Uhr abschaltet, hat er noch lange nicht Feierabend. Macht Abrechnungen und Bestellungen, organisiert Pressekonferenzen.

Als im September 1991 ein Anruf aus dem Büro des damaligen Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher kommt, organisiert er kurzfristig ein buntes Mauerteil als Gastgeschenk für einen Besuch im kanadischen Ottawa. Weil das Mauerstück mit den passenden Graffiti schon durch den Schredder gegangen ist, engagiert er Sprayer, die ein Motiv mit dem Berliner Bären nachsprühen. Mauer ist Mauer, da ist der Ingenieur pragmatisch. Das Teil ist bis heute als historisches Original in Ottawa zu sehen.

Mauerteile gibt es mittlerweile auf jedem Kontinent, zusammengerechnet rund 500 Segmente und damit wahrscheinlich mehr, als in Berlin erhalten sind, vermutet der Historiker Ronny Heidenreich von der Gedenkstätte Berliner Mauer, der den Weg von 250 Mauerteilen in der Welt nachverfolgt hat.

Die Mauer steht heute nicht nur in unzähligen Museen, sondern zum Beispiel auch am Bahnhof von Monaco, im Hafen von Kapstadt, auf dem Berliner Platz in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, in einem Privatgarten auf den Bahamas oder beim König der Südseeinsel Tonga. Ein deutscher Geologe hat sogar einen Stein auf dem Mars nach der Berliner Mauer benannt: „Broken Wall“ heißt der 85 Zentimeter große Felsbrocken auf dem roten Planeten. Das sinnfälligste Symbol des Kalten Krieges ist zur weltweiten Ikone für dessen Ende geworden.

Der Mauerschutt von Goldschmidts Baustelle ist in Berlin geblieben, unsichtbar. Er liegt heute als Aufschüttungsmaterial unter Parkplätzen und Fahrbahnen. Der Großteil wurde für die Sanierung der Bernauer Straße und beim Ausbau der Autobahn Richtung Buch genutzt, sagt Goldschmidt: „Der Rest ging an Unternehmer aus Berlin.“

Insgesamt 250 000 Tonnen Mauer, rund 6250 Lkw-Ladungen, dazu die gleiche Menge Steinmaterial von Wachtürmen, Fahrbahnplatten, der Hinterlandmauer, hat Goldschmidts Truppe zerschreddert. Erst 1993 war der Mauerauftrag erledigt, das grüne Ungeheuer wurde abgeschaltet. Eine Zeit lang stand die Maschine noch auf einem Recyclingplatz in Leipzig, dann verliert sich ihre Spur. „Ich weiß nur, dass sie ins Ausland verkauft wurde“, sagt Goldschmidt.

Der Ost-Berliner hat danach gute Posten angeboten bekommen. Aber er lehnte ab. In der Zeit auf dem Mauerfriedhof, als der Betonberg immer kleiner wurde, ist ein Wunsch in ihm immer größer geworden. Der Herr des grünen Ungeheuers wollte endlich auch sein eigener Herr werden. 1994 machte er sich mit einer eigenen Recyclingfirma selbstständig. „Ich wollte es einfach mal probieren, nach so langer Zeit im Osten ohne die Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen“, sagt Goldschmidt. Es war ein Wagnis. Und es funktionierte. 40 Mitarbeiter hatte sein Unternehmen zu Hochzeiten, heute sind es zehn. Großabrisse gibt es praktisch nicht mehr, auch neue Autobahnprojekte nicht. „Der letzte Winter war eine sehr große Durststrecke“, sagt Goldschmidt. Die Maschinen standen wochenlang still. Aber jetzt aufhören?

65 Jahre alt ist Karl-Heinz Goldschmidt, hat drei Enkel und vor vier Jahren ein zweites Mal geheiratet. Ein Haus in der Nähe von Hoppegarten hat er sich mit seiner Ehefrau geleistet. Der Blick durchs Fenster fällt in den Wald, hier ist es vor allem ruhig. Das gefällt ihm. Denn vom Mauerabriss blieb ihm neben dem guten Gefühl, das Richtige getan zu haben: ein Hörschaden.

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