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Großbritanniens Premierminister David Cameron befestigt Poppies an einer Weltkriegs-Gedenktafel.

© Reuters

Mauerfall, Pogromnacht, erster Weltkrieg: Warum tragt ihr Deutschen keine Poppies?

Bei den Festlichkeiten dieser Woche ging es vor allem um den Mauerfall. In seiner Kolumne "Espiners Berlin" fragt sich Mark Espiner, ob nicht andere wichtige Gedenktage übersehen wurden.

Ein deutsches Wort hat es in mein englisches Vokabular geschafft und ich versuche gerade, es auch im Englischen zu verwenden: "Mauerfall". Falls ich daran scheitern sollte, es auf deutsch in einen Satz hinein zu mogeln, sage ich stattdessen eben „wall fall". Beide Varianten sind so viel einfacher auszusprechen als „the fall of the Berlin wall". Ich hoffe, dass sie dann ganz allgemein bis zum Jahr 2039 gebräuchlich sind, gerade rechtzeitig für die 50-Jahr-Feiern des Mauerfalls, aber auch in einem Jahr, in dem sich der Beginn des Zweiten Weltkriegs zum hundertsten Mal jährt. Beim Thema Mauerfall dachte ich außerdem, dass vielleicht das bedeutendere Jubiläum der 28. Jahrestag wäre, nicht der 25., da 2017 den Zeitpunkt kennzeichnet, an dem die Mauer länger weg war, als sie existiert hat.

Jahresfeiern sind eine merkwürdige Sache. Am 9. November wurden jetzt 25 Jahre Mauerfall in Berlin groß gefeiert. Aber das schicksalsträchtige Datum markiert gleichzeitig die Pogromnacht. Als ich an diesem Tag am Telefon mit einer Freundin in London gesprochen habe, gedachte sie dieser Nacht, einem viel finstereren Ereignis als das wilde Jubeln und spontane Singen im Hintergrund am meinem Ende der Leitung. Und diese beiden Ereignisse sind nicht die einzigen wirklich bedeutsamen Ereignisse des 9. November in der deutschen Geschichte, wie schon oft betont wurde. Es würde mich nicht überraschen, wenn sich auch Beethoven seine 9. Symphonie am 9.11. ersonnen hatte.

Nach den ganzen Feiern hatte ich Kopfschmerzen und besuchte meine deutsche Ärztin, die empört über diesen ganzen Mauerzinnober war. Ich war gerade dabei zu sagen, wie wundervoll meiner Meinung nach alles war, wie die Grenze aus Ballons wirklich den Eindruck vermittelte, wenn auch einen harmlosen, wie es sich wohl angefühlt hat in einer geteilten Stadt, sich an das Gefühl einer Völkerwanderung zu erinnern und sich vorzustellen, wie es 1989 war. Doch bevor ich das alles sagen konnte, fragte sie mich: „Wo sind die Poppies?"

Ich brauchte einen Moment, bis ich verstanden hatte. November. Armistice Day. Der Tag des Friedens, das Ende des Ersten Weltkriegs, dessen Beginn sich jetzt zum 100. Mal jährte. „Das war der Große Krieg", sagte sie. Und dass man seiner gedenken sollte. Sie war gerade aus Schottland zurück gekommen, welches ein einziges Meer aus karminroten Poppy-Ansteckern war.

Es stimmt. Im Vereinigten Königreich sind Poppies, also Mohnblumen, im November überall. Jedes Jahr tragen die meisten Leute stolz ihre Mohnblume – bei der BBC ist es sogar Pflicht – um den sinnlosen Verlust von Menschenleben in einem kläglichen Krieg zu honorieren. Das ist kein Jubeln über den Sieg, kein Triumphieren über die Preußen, die Deutschen, wen auch immer. Es ist ein Innehalten, um diesen katastrophalen europäischen Krieg zu betrachten und welche Verschwendung von Leben er mit sich brachte. Dieses Jahr bei der Hundertjahrfeier des Kriegsbeginns ist alles in noch vollerer Blüte.

Aber hier? Nichts. Oder habe ich was verpasst? Kürzlich sah ich ein Foto mit Angela Merkel, auf dem sie ihr Bestes gibt, David Cameron gütig anzusehen. Er hatte seine Poppy, während Angela ohne war. Was für eine verschenkte Gelegenheit für gute deutsch-englische Beziehungen, dachte ich, oder für die Anerkennung eines wahnsinnigen europäischen Krieges. Oder mehr noch, liegt doch der Beweis von Stärke und Frieden im Zusammenhalt und nicht hinter Schützengräben oder in Streitigkeiten über Brüssel und Immigration.

Wahl-Berliner aus London: Mark Espiner schreibt für Tagesspiegel.de die Kolumne "Espiners Berlin".
Wahl-Berliner aus London: Mark Espiner schreibt für Tagesspiegel.de die Kolumne "Espiners Berlin".

© Thilo Rückeis

Vielleicht können Sie, liebe Leser, mich darüber aufklären, warum dieses spezielle Jubiläum so gedämpft abläuft? Dabei gibt es beim Ersten Weltkrieg doch keinerlei der komplexen Fragen, die den Zweiten umgeben. Wenn Sie ein schnelles Résumé wünschen, wie damals alles zustande kam, gibt es hier eine sehr gute Beschreibung und historisch akkurate Erklärung der Ereignisse als Kneipenstreit.

Aber am wichtigsten ist doch, so vermute ich, das Bedürfnis, das Offensichtliche auszusprechen. Der Saat für den Zweiten Weltkrieg lag im Ende des Ersten. Und die Steine für die Berliner Mauer wurden aus dem Zweiten heraus verbaut. Man kann nicht den Mauerfall feiern ohne anzuerkennen, dass er das Resultat eines Ereignisses ist, das 44 Jahre vor ihrer Erbauung stattfand. Und die Saat für den Ersten Weltkrieg? Nun, die lag in einem geteilten Europa – und hierin liegt auch eine Lektion für Großbritannien.

Aus dem Englischen übersetzt von Claudia Eberlein. Den englischen Originaltext finden Sie hier. Sie können Mark Espiner auf Twitter unter @deutschmarkuk folgen.

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