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Mauer_Matthes

© Detlef Matthes

Mauerfall vor 18 Jahren: Er fotografierte die Grenze und ging dafür ins Gefängnis

Detlef Matthes dokumentierte die Mauer jahrelang von Ost-Berlin aus Die Stasi warf ihm Spionage-Absichten vor und inhaftierte ihn. Am Ende durfte er ausreisen.

Von Matthias Schlegel

Manche Aufnahmen sind verschwommen, andere überbelichtet. Personen sind kaum zu sehen. Dafür immer wieder dieses Bauwerk. Leerer Raum, Tristesse. Nur wenig können die Fotos über die Sprengkraft ihrer Motive aussagen und über die Gefahren für denjenigen, der sie gemacht hat.

Detlef Matthes ist Mitte der 80er Jahre gerade mal 16, 17 Jahre alt. Fast jeden Tag zieht es den Jungen aus seinem brandenburgischen Städtchen Biesenthal ins nahe Berlin. Es ist diese Mauer, die ihn magisch anzieht. Sie markiert das Ende seiner realen Welt, genau dort, wo seine Vorstellungswelt erst beginnt: schnelle Autos, geniale Rockbands, Freiheit. Er kann nicht begreifen, dass dieser unverrückbare Betonklotz ihn von seinen jugendlichen Idolen und Idealen trennt.

Und so fotografiert er sie, um auch ein bisschen vom Westen dahinter zu erhaschen, der auf den offiziellen DDR-Stadtplänen nur eine weiße Fläche ist. Meist endet sein Blick schon an der „Hinterlandsicherungsmauer (HSiM)“, wie die erste Sperre vor dem Todesstreifen im Sprachgebrauch der Herrschenden heißt. Immer und immer wieder drückt er auf den Auslöser. Von Seitenstraßen aus, denen die Mauer ein willkürliches Ende setzt. Aus Treppenhäusern. Aus der fahrenden S-Bahn heraus. Selbst auf einem Friedhof. Die zu Hause entwickelten Fotos stopft er in Keksdosen. Nicht, dass er damit etwas anfangen will. Der Frust erschöpft sich darin, dass er das Monstrum abbildet. Er bezwingt es damit ein bisschen, gerade weil das verboten und gefährlich ist.

Seine Kamera Exa Ib hat Detlef bei seinen Touren nach Berlin immer dabei. So auch Pfingsten 1987, als es ihn zum Brandenburger Tor zieht. Auf der Westseite steigt eine Riesenparty – ein dreitägiges Rockkonzert mit Genesis, David Bowie, den Eurythmics und anderen Bands. Rüber kann er nicht, das ist ihm klar. Aber wenigstens auf der Ostseite wollen er und sein Bruder lauschen. Hunderte andere Jugendliche haben die gleiche Idee.

Am dritten Tag will die Staatsmacht dem Treiben der Lauscher an der Mauer ein Ende machen und sperrt die Straße Unter den Linden schon an der Friedrichstraße ab. Weil die jungen Leute dafür überhaupt kein Verständnis haben, gehen Stasi-Leute und Polizei brutal gegen sie vor. Detlef fotografiert die Handgreiflichkeiten. Dafür wiederum haben die Ordnungshüter keinerlei Verständnis. Sie nehmen ihm den Film weg, seine Personalien werden aufgenommen. Das brutale Vorgehen der Sicherheitsleute gegen die Jugendlichen empört die Brüder. Detlef schreibt einen Erlebnisbericht und schickt ihn über eine Deckadresse an Medien in der Bundesrepublik.

Anderthalb Monate später, es ist der 21. Juli 1987, wird Matthes in seinem Ausbildungsbetrieb, dem Kraftfuttermischwerk in Eberswalde, zum Kaderleiter, also dem Personalchef, bestellt. Drei Stasi-Leute warten auf ihn. Er wird „zur Klärung eines Sachverhalts“ mitgenommen. In einem gelben „Lada“ geht es ins Stasi-Gefängnis in der Lichtenberger Magdalenenstraße. Dort wird er vernommen und ein paar Stunden später zur Untersuchungshaft in den Stasi-Knast nach Hohenschönhausen gebracht.

Die Stasi hat den Erlebnisbericht aus der Post gefischt. Nach einem Handschriftenvergleich mit Unterlagen aus seiner Kaderakte im Kraftfuttermischwerk wurde er überführt. Der Vorwurf lautet nach Paragraf 219 des DDR-Strafgesetzbuchs „ungesetzliche Verbindungsaufnahme“. Was Detlef zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Noch am Tag seiner Festnahme haben die Leute von der Staatssicherheit sein Zimmer in der elterlichen Wohnung durchsucht und in den Keksdosen die Fotos von Mauer und Grenzstreifen gefunden. Sie haben alles Belastende mitgenommen.

Bei weiteren Vernehmungen wird dem 19-Jährigen klar, dass die Lage ernst ist. Einmal droht ihm ein Stasi-Offizier, man könne ihm ja auch Spionage anhängen. Noch nie habe jemand so viel Fotos von den „DDR-Grenzsicherungsanlagen“ gemacht wie er, sagen sie ihm. Sechs Wochen Untersuchungshaft vergehen in drückender Ungewissheit. Doch am 2. September 1987 wird er so unverhofft, wie er verhaftet wurde, wieder freigelassen. Dass der Besuch von Staats- und SED-Chef Erich Honecker in der Bundesrepublik unmittelbar bevorstand, konnte er nicht mal aus dem „Neuen Deutschland“, der einzigen Zeitung im Knast, erfahren – die Gefängnisleitung zensierte sogar das Zentralorgan der SED und schnitt solche Meldungen raus. Und von einem Bericht auf der Titelseite des Tagesspiegels vom 26. Juli über die Verhaftung der Brüder Matthes bei den Pfingstrandalen in Ostberlin hatte er erst recht nichts gewusst. Seine Verwandten hatten in Westberlin Informationen an die Medien gegeben und damit Druck gemacht.

Der 19-Jährige lässt sich zunächst ein paar Tage krank schreiben, dann geht er wieder zur Arbeit. Und stellt einen Ausreiseantrag. Am 26. Februar 1988 wird er wieder zum Kaderleiter bestellt. Der teilt ihm diesmal mit, dass seinem Ausreiseersuchen stattgegeben wurde. „Bis 24 Uhr musst Du raus sein“, sagt der Mann. Bis zum Tränenpalast an der Friedrichstraße hatte er immer seine Großmutter begleitet, wenn sie zu Besuchsreisen in den Westen fuhr. Nun wird der Bahnhof für ihn selbst das Tor zum Westen. Zunächst kommt er in West-Berlin bei Verwandten in Lichterfelde unter. Im November des gleichen Jahres zieht Detlef Matthes nach Kreuzberg.

Als am 9. November 1989 die Mauer fällt, ist das für ihn ein ambivalentes Erlebnis. „Einerseits traf ich plötzlich Leute wieder, die ich eigentlich nie wiedersehen wollte, andererseits war der Spuk endlich vorbei“, erinnert sich der heute 39-Jährige an seine damaligen Gefühle. Auf die Suche nach seiner Vergangenheit macht sich Matthes erst 1995. Er stellt bei der Stasiunterlagenbehörde einen Antrag auf Akteneinsicht. Und plötzlich steht ihm buchstäblich alles wieder vor Augen. Er findet Vernehmungsprotokolle, den Haftbefehl und die Aufhebung des Haftbefehls. Und: Aus den zwei Aktenordnern purzeln ihm seine eigenen Fotos entgegen. Jedes einzelne hat die Stasi registriert. 179 Bilder, 35 Negativfilme. Dazu genaue Auflistungen der Orte, die abgebildet sind.

Seine Bilder hatten die Stasi, die DDR und eine friedliche Revolution überlebt. Zwischen ihrer Entstehung und ihrer Wiederauffindung lagen nur wenige Jahre. In dieser kurzen Zeitspanne waren sie zu historischen Dokumenten geworden.

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