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Ab in die Freiheit. Im Sommer öffnete Ungarn die Grenze zu Österreich - der Anfang vom Ende des Ostblocks.

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Mauerfall vor 25 Jahren: Ost-Berlin 1989: Der vorletzte Sommer der DDR

Die Anzeichen fürs Ende der DDR waren im Sommer 1989 nicht mehr zu übersehen. Es gab immer mehr Ausreiseanträge, das Neues Forum gründete sich - doch Honecker & Co. wollten es nicht wahrhaben. Eine Erinnerung.

Im Leben von Christa und Rainer war nichts mehr so, wie es war, seitdem Thomas der Wohnung seiner Eltern den Rücken gekehrt hatte. Schon seit Tagen war der Junge verschwunden. Hatte ihn der Staat in seine Obhut genommen? War ihm etwas zugestoßen? War er abgehauen, wie so viele in diesen Sommertagen des Jahres 1989? Rainer schaltet die Tagesschau ein, und während der Spitzenmeldung schreit er: „Guck, da ist er!“ Auf dem Bildschirm findet gerade eine Revolution statt. Ungarn hat die Grenze zu Österreich geöffnet, Menschen rennen der Möglichkeit davon, dass sich die Magyaren die Sache noch einmal überlegen oder dass Panzer kommen oder was weiß ich. Aber nichts geschieht. Die Leute fallen sich in die Arme, und mittendrin ist Thomas aus Berlin. Die Familie weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll. „Er lebt, und das ist die Hauptsache.“
Im Sommer 1961 hatte die Abstimmung mit den Füßen zum Bau der Mauer geführt. 28 Jahre später wird die einbetonierte Lüge vom „antifaschistischen Schutzwall“ eingerissen. Aber zuvor erleben wir in der DDR einen ganz besonderen Sommer, den Sommer der Utopie und unseres Missvergnügens. Es braut sich etwas zusammen. Wetterleuchten. Der Frust des Volkes, das gerade den aufrechten Gang lernt, wird immer größer. Der Staat betrügt seine Bürger. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Walter G. aus Pankow hatte sich im Mai 1989 in die Schar jener eingereiht, die, längst misstrauisch, die wahren Ergebnisse der Kommunalwahlen erforschen wollten. Er notierte die Zahl der Ja- und Nein-Stimmen und die der ungültigen Zettel. Und am nächsten Tag liest er in der Zeitung komplett andere, geschönte, Zahlen – getreu den Vorgaben. Im Brecht-Land denkt man plötzlich an BBs Lied: „Am Grunde der Moldau wandern die Steine / es liegen drei Kaiser begraben in Prag. / Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine / Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.“

Von Januar bis Juni stellen 125 000 Menschen einen Ausreiseantrag. Weg, weg, weg. Junge, Alte. Land- und Stadtflucht gen Westen, wo Milch und Honig fließen sollen, Sehnsucht nach der Ferne, nach „dem Anderen“, nach Unabhängigkeit und freiem Wort, wider die Doppelzüngigkeit, für Wohlstand auch, man hat schließlich nur ein Leben. Tränenreiche Abschiedsfeten, in Prenzlauer Berg mehr als anderswo. Freunde packen Kisten voller Bücher, jedes muss mit Jahrgang, Autor und Verlag registriert sein, die Schikane vom Zoll dauert Nächte, Frust, Tränen und Rotwein, Rosenthaler Kadarka. Es war so, wie es Volkes Weisheit auf ein Bettlaken gepinselt und im Herbst am Brandenburger Tor aufgehängt hatte: „Bleibt die Mauer, gehn die Leute. Fällt die Mauer, ist sie pleite. Ja, sie hat es wirklich schwer, uns’re arme DDR“.

Die DDR lässt die Städte verfallen

Die Ursachen der Frustration füllen ganze Postsäcke mit Eingaben an den Staatsrat. Die Städte verfallen, Uschka T. gründet eine Initiative zur Rettung der Spandauer Vorstadt, die abgerissen und mit Plattenhäusern bebaut werden soll. Es stinkt zum Himmel, was aus den Schloten, Schornsteinen und Autos quillt, die Versorgung klappt hinten und vorne nicht, die Witze, die angeblich aus dem SED-Zentralkomitee kommen, werden immer bissiger – der Letzte macht bitte dann mal das Licht aus. Kleine weiße Bänder flattern an den Autoantennen, um zu zeigen: Hey, Leute, auch ich habe einen Ausreiseantrag gestellt. Freundin Sabine fährt ganz stolz mit dem Solidarnosc-Symbol am Heckfenster durch die Schönhauser Allee, ein Chef knurrt: „Das machen Sie schleunigst ab.“

Die Vorküämpfer. Die Bürgerrechtler Bärbel Bohley und Jens Reich gehören zu Gründern des Neuen Forums.
Die Vorküämpfer. Die Bürgerrechtler Bärbel Bohley und Jens Reich gehören zu Gründern des Neuen Forums.

© picture alliance / dpa

Die kleinen Frechheiten nehmen zu, je mehr der Druck im Kessel steigt. Angefeuert wird er auch durch das Verbot des sowjetischen Magazins „Sputnik“, durch Glasnost und Perestroika, durch den Wandel ringsum – in Polen siegt die Solidarnosc, in Ungarn stürzt Janos Kadar, und am 16. Juni werden die sterblichen Überreste vom nach der Revolution von 1956 erschossenen Ministerpräsidenten Imre Nagy aus einem Massengrab umgebettet. 250 000 Ungarn sind dabei und trauern.

Das Neue Forum wird gegründet - und verboten

In der DDR strömen die Leute in die Kirchen, wo sich oppositionelle Gruppen bilden. Die Netzwerke einer neuen Freiheit funktionieren. Oder sie gehen ins „Neue Forum“, jene Bürgerbewegung, die sich in Grünheide im Haus von Katja Havemann gründet und am 19. September, gestern vor 25 Jahren, offiziell anmeldet. Zwei Tage später meldet ADN, die Gruppierung sei verfassungs- und staatsfeindlich, ihr Antrag auf Zulassung sei abgelehnt, „es besteht keine gesellschaftliche Notwendigkeit für eine derartige Vereinigung“. Mehr noch: Am nächsten Tag fordert Honecker, „die konterrevolutionären Gruppen“ zu bekämpfen: „Diese feindlichen Aktionen müssen im Keime erstickt werden.“ Zu spät.

Ende August fragt Erich Mielke bei einer Dienstbesprechung einen seiner Generäle, ob „morgen der 17. Juni ausbricht“. Nein, morgen nicht. Aber am 9. November. Sofort, unverzüglich. Und sehr nachhaltig.

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