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Kreidezeit: Jeden Tag um Acht Uhr steht Baldur Lemke pünktlich auf seinem Platz. Denn: "Es gibt immer watt zu tun."

© Sebastian Dudey

Mehr Berlin: Der alte Mann und der Platz

Keine Bewegung zu viel – trotzdem alles im Griff: Männer wie Baldur Lemke, 77 Jahre, seit 1988 Platzwart der SG Blankenburg im Norden Berlins, sind selten geworden. Zeit, einer Institution zu huldigen, ehe sie vergeht.

Keine ausschweifende Bewegung, kein Moment plötzlicher Hektik. Baldur Lemke rührt sich kaum, und wenn er sich doch einmal rührt, sind seine Gesten, die kurzen Schritte, von energiesparender Langsamkeit.

Meist sitzt er, Platzwart am Stadion an der Straße 18 in Blankenburg, einfach nur dort, weißer Tisch, schwarzer Kaffee. Auf dem einzigen Stuhl des Vereinscasinos der SG Blankenburg, auf dem, aus einer Gewohnheit heraus, die irgendwann Tradition geworden ist, ein Sitzkissen liegt. Er hat hier eine Stammplatzgarantie.

Deshalb setzt man sich am besten einfach neben ihn, Vereinscasino, weiße Tische, braune Stühle, Mannschaftsfotos an den sonst kargen Wänden, und wartet. Bis etwas passiert. Oder eben: bis überhaupt nichts passiert.

Er hat ja auch so alles unter Kontrolle. Da wäre jeder überflüssige Schritt nur eine Beleidigung der eigenen Erfahrungen. Sinnloser, völlig unnötiger Aktionismus. Für so einen Quatsch ist Lemke zu alt. Das überlässt er dann doch lieber der Jugend, die für ihn ja schon, rückwärts gerechnet, jenseits der 60 beginnt. Baldur Lemke wird im nächsten Februar 78 Jahre alt.

08:15 Uhr

Lemke, der Mann, der in Blankenburg den Schlüssel zum Fußball trägt, ist seit acht Uhr hier. Wie an fast jedem Morgen, ein Vierteljahrhundert schon, hat er an diesem Sonntag das Tor zum Stadion aufgeschlossen und seinen Wagen, einen alten Mercedes, S-Klasse, Automatik, auf dem Rasen neben dem Vereinsheim geparkt. Nicht mehr ganz so weißer Containerflachbau. Er hat die Tür zum Casino geöffnet, sich erst einmal auf seinen Platz gesetzt und eine Zigarette angezündet, Route 66, Discounterkraut. Nun wartet er einfach, rauchend, während seine Frau Heidi hinter der Theke, Zapfhahn zur Linken, Trophäen im Rücken, den ersten Kaffee des Tages aufsetzt.

Lemke trägt, Heimspieltag in der Kreisliga A, seine alte Trainingsjacke. Fußballrentnersonntagstracht, ganz großartige Ballonseide. Die zu erwartende Uniform des Platzwartes. Weiße Schrift auf schwarzem Grund. Und auf dem Rücken: „… wo Fußball noch Spaß macht“. Für die nächsten zwei Stunden haben die beiden den Platz, ihr Wohnzimmer, und das Casino ganz für sich. Erst dann kommen nach und nach die Spieler, die Zuschauer und mit ihnen die Unruhe. Jetzt aber erst mal: Zeit genug, um zu erzählen.

„Seit 1988 bin ich hier uff’m Platz.“ Lemke schnauft mehr, als dass er spricht. Die Stimme schnarrend, als käme sie direkt aus einem alten Volksempfänger, dabei unentschieden zwischen zementhartem Ostberliner Idiom und einem ostpreußischen Ritt durch die Silben, Watte und Sandpapier, mit Worten, die nach Salzwasser schmecken. „Vor der Wende, inne DDR schon.“ Lemke war erst Vorsitzender bei der SG Blankenburg, dann als Vorarbeiter auch verantwortlich für die Plätze an der Buschallee, schließlich Platzwart. Straße 18. Sein Revier. Ehe er in Rente gehen musste. Zwölf Jahre ist das her. Platzwart ist er immer noch. Ehrenamtlich. „Wenn man mit Herzblut dabei ist“, sagt er, „dann geht man nicht einfach so.“ Also ist er geblieben. Da, wo er für alle nur der Baldi ist. Ihr Original. Seine Familie.

Zwischendurch war noch ein anderer hier, vom Bezirksamt eingesetzt. Dem hat er dann erzählt, wo es langgeht in seinem Stadion. Straße 18. Bis der wieder verschwand. „Der war nicht vertrauenswürdig“, erinnert sich Lemke, „den haben sie dann nach Buchholz umgesetzt, auf einen Kunstrasenplatz.“ Er hält kurz inne, das Wort Kunstrasen hat er fast ausgespuckt, gut hörbarer, abfälliger Unterton: „Da braucht er nur den Schlüssel rausgeben und das Flutlicht anmachen.“ Es spricht ein Mann, der stolz ist auf das, was er hier macht. Echter Rasen, echte Vereinsidentifikation. Ist ja selten geworden.

Platzwarte wie ihn, 25 Jahre, ein Verein, gibt es in Berlin kaum noch. Dafür fehlen die Mittel. In der Regel werden sie von den Bezirksämtern nach Bedarf eingesetzt. Springer, mobile Einsatzkommandos, ohne Heimstätte, ohne Vereinsmitgliedschaft. Söldner in blauen Latzhosen. Lemke aber ist untrennbar mit der SG Blankenburg, Fußball seit 1952, verbunden. Und im Verein auch alles auf einmal: Schattenpräsident, größter Anhänger, Maskottchen und Denkmal mit DDR-Patina. Er hätte deshalb, plötzlich Rentner, auch gar nicht gewusst, wohin mit sich. „Die Arbeit hier, der Platz, das alles ist wie ein Jungbrunnen für mich.“ Sagt er, Viertel Zigarette in einem Lungenzug, das R in Jungbrunnen wunderbar gerollt, darin ein ganzes Leben.

Geboren in Berlin, Mühlenstraße in Friedrichshain, Februar 1935, muss Lemke die Stadt noch als Säugling verlassen. Er kommt zur Großmutter nach Ostpreußen, zwölf Kilometer bis zur litauischen Grenze: „Meine Mutter hatte damals einen Halbjuden zum Mann und die durften während des Krieges nicht heiraten. Deshalb kam ich zur Oma.“ Dort verbringt er seine Kindheit, auf dem Land. Kühe hüten, Torf machen, während nicht weit entfernt die Welt brennt. 1944 aber nähert sich der Krieg auch dem Dorf der Großmutter. Flucht mit der Oma, Rückkehr nach Berlin. Die letzten Kriegstage. Lemke, lakonisch : „Da kamen die Russen rinn und wir mussten raus, haben dann in Hönow eine Bleibe gefunden, aber ich bin wieder rein nach Berlin.“ Lemke, zehn Jahre alt, läuft die sechzehn Kilometer zurück, Landsberger Allee in Flammen. „Unterwegs habe ich mir noch ein Hitlerjugend-Hemde angezogen und wollte Berlin verteidigen.“ Ein langes, keuchendes, bis in die Erinnerung hineinreichendes Lachen: „Wie man als Kind eben so war.“

Die Jahre danach sind eine Jugend in der DDR. Nach Kriegsende, Schule bis zur 9. Klasse, arbeitet er beim Grünflächenamt Magistrat von Großberlin. „Damals hieß das noch so, Großberlin“, sagt er und schaut dabei, als amüsiere es ihn, wie lang das her ist. Lemke, halbes Kind noch, pflegt Parkanlagen und Rasenflächen. Immer an der frischen Luft, wie früher im Dorf der Großmutter, zwölf Kilometer zur litauischen Grenze. Bald wechselt er ins Zentralhaus der Jungen Pioniere, Lichtenberg, in die Sportabteilung, kümmert sich als Platzarbeiter um Halle und Sportanlagen: „Da habe ich sozusagen auch schon den Platzwart gemacht.“ Verschnaufpause, nächste Zigarette. „Das ist eben die Arbeit, bei der ich die größte Erfüllung finde. Weil ich gerne in der freien Natur bin“, sagt er dann und es liegt noch etwas mehr Ostpreußen in seiner Stimme als sonst.

Er teilt hier alles ein, "damit der Sportbetrieb laufen tut"

Eingespieltes Team: Baldi und Heidi kümmern sich seit fast 30 Jahren gemeinsam um den Platz. Dabei sprechen sie wenig miteinander. Müssen sie auch nicht, sie verstehen sich so.
Eingespieltes Team: Baldi und Heidi kümmern sich seit fast 30 Jahren gemeinsam um den Platz. Dabei sprechen sie wenig miteinander. Müssen sie auch nicht, sie verstehen sich so.

© Sebastian Dudey

09:25 Uhr

Klar ist aber auch, dass Lemke, 78 im nächsten Februar, die Arbeit nicht mehr allein bewältigt: „Ick kann mit meine 77 Jahre doch nicht mehr auf die Leiter rumhopsen, wa!“ Deshalb hat er seit einigen Jahren Hilfe. Männer „vonne Maßnahme“ – ABM, Ein-Euro-Jobber, seine Arme und Beine: „Die machen alles, watt ich sie sage.“ Er holt noch eine Zigarette aus der Packung, zittrige Finger. „Eigentlich bin ich wieder bisschen Vorarbeiter hier, habe weniger mit Arbeit zu tun, teile aber alles ein, damit der Sportbetrieb laufen tut.“ Von seinem Stuhl aus koordiniert er die Arbeitsabläufe, bestellt, die Inventur des Vereins ständig im Kopf, neue Kreide, verteilt die Kabinen oder bezahlt die Schiedsrichter. Und entscheidet am Ende auch, bei Regen oder Eis, ob gespielt werden darf oder eben nicht. Ein Vorarbeiter, der den Laden zusammenhält, auf den sich die Leute verlassen können, so wie man sich früher auf die Jahreszeiten verlassen konnte.

Martin, „vonne Maßnahme“, seit April in Blankenburg, wortkarger Mecklenburger, ist kurz nach seinem Chef angekommen, hat sich den Schubkarren gegriffen und ist raus auf den Platz. Um die Fahnen aufzustellen, die Netze zu prüfen. Letzte Schönheitskorrekturen. Jetzt will er seine erste Kaffeepause machen. Freundliche Begrüßung unter Männern, die vor allem in Notwendigkeiten denken: „Der Maulwurf war da, kümmerst du dich noch darum?“ Klare Ansage. Mecklenburgischer Gehorsam. Direkt wieder raus auf den Platz.

Heidi sieht ihm kurz nach. Jut, sagt ihr Gesicht, dann eben keen Kaffe. Sie legt sich das Spültuch über die Schulter und räumt die restlichen Biergläser in die Anrichte. Im Casino ist es still. Nur das Klirren der Gläser ist zu hören. Baldi raucht, Heidi räumt. Sie sprechen kaum miteinander, als hätten sie die füreinander bestimmten Sätze in 30 Jahren aufgebraucht. Sie verstehen sich ohne. „Eingespieltes Team“, sagt Heidi, zehn Jahre jünger als ihr Mann, Kurzhaarfrisur in Grenzorange, diese Gutmütigkeit im Gesicht, wie sie früher die Bäckersfrauen hatten, jedes Wort eine Umarmung.

Ihren Mann hat sie 1980 kennen gelernt, vier Jahre nachdem seine erste Frau an Krebs gestorben war. Keine große Geschichte, sie waren Nachbarn, Nähe Stralauer Allee: „Ich habe vier Treppen gewohnt, mein Mann eine.“ Lemke unterbricht sie aus dem Hintergrund: „Parterre!“ Sie nickt, hat er recht. Durch Bekannte kommen sie damals das erste Mal nach Blankenburg. Lemke gefällt das Ländliche hier draußen. Blankenburg ist Berlin, ohne Berlin zu sein. Dorfleben, Kreisligaidylle am Stadtrand. Sie bleiben. Kaufen ein Grundstück, 1986, keine fünf Minuten vom Platz entfernt. Für damals 1000 Ostmark. Das Haus bauen sie selbst. Für Heidi ist sofort klar, dass sie das hier in Blankenburg gemeinsam machen: „Da waren wir uns sofort einig. Wir kieken ja zu Hause auch Fußball zusammen. Wa, Schatzi?“ Diesmal nickt Schatzi, hat sie recht. Heidi, sagt Lemke, sagen auch alle anderen hier, ist die Mutter des Vereins. Sie sagt: „Mädchen für alles, sage ich mal.“

10:00 Uhr

Langsam füllt sich das Casino. Wichtig ist jetzt, ungeschriebenes Gesetz, dass alle Neuankömmlinge von Baldi, wahlweise auch von Heidi, mit dem gängigen Vereinsheimwillkommensgruß und den dazu passenden zeremoniellen Gesten der Wiedersehensfreude empfangen werden. Dafür wird hinter den Vornamen des Eintreffenden einfach der Zusatz „meine Sonne“ gesetzt. Hin und wieder variiert durch ein etwas abgemildertes „mein Bester“, oder, in Ausnahmefällen, „mein Kleener“. So jetzt auch beim Auftritt des ersten Vorsitzenden Peter Thieß: „Peter, meine Sonne! Wie geht es dir?“ Umarmung für Heidi, Vereinsheimhandshake für Baldi. Peter, der Sonne, geht es gut. Bisschen müde, aber muss ja: „Heidi, haste noch ein Käffchen für mich?“ Klar. Heidi macht also Käffchen, stellt aber vorher noch die wichtige Käffchenfrage: „Schwarz, weiß oder bunt?“ Bunt, wie immer. Thieß setzt sich an den Tisch neben Lemke und sagt: „Ich wüsste nicht, was ich ohne die beiden machen würde.“

Sie streiten nicht: Peter Thieß (l.), 1. Vorsitzender der SG Blankenburg und sein Vorgänger Baldur Lemke klären alles so, wie es sich eben gehört: Bei Käffchen und Zigarette.
Sie streiten nicht: Peter Thieß (l.), 1. Vorsitzender der SG Blankenburg und sein Vorgänger Baldur Lemke klären alles so, wie es sich eben gehört: Bei Käffchen und Zigarette.

© Sebastian Dudey

Thieß, 50 Jahre, nur wenige Wochen jünger als die Fußballabteilung der SG Blankenburg, könnte auch Chef einer privaten Sicherheitsfirma sein. Umbro-Pullover, Daunenjacke, Gel in den kurzen Haaren, solide Mallorca-Bräune. Er will jetzt eigentlich erzählen. Über den Verein, die Familie, wie das hier alles zusammengehört. Bisschen auch über sich. Doch Thieß kommt nicht weit.

Thieß: „1991 habe ich das Amt des Vorsitzenden übernommen.“

Lemke: „1990.“

Thieß: „1991, glaube ich.“

Lemke: „Wir streiten nicht, Peter!“

Thieß: „Da ziehe ich ja ohnehin den Kürzeren.“

Wäre das auch geklärt. Zweiter Versuch. Es spricht der erste Vorsitzende über den Platzwart, der aber eben auch sein Amtsvorgänger ist. Spürbarer Respekt. „Ohne Baldi würde alles, was den Sportplatz betrifft, nicht laufen.“ Schluck Käffchen, Blick zu Baldi, der die Wärme der Worte ohne nennenswerte Regungen empfangen hat. „Er hat hier die Fäden in der Hand, weil er sich auskennt, schon so lange da ist.“ Kleine Huldigung, in der aber auch die Kompetenzfrage mitschwingt. Denn Lemke, früher selbst Vorsitzender, steht in der klubinternen Hierarchie natürlich noch immer weit oben, besitzt diesen Stellenwert des schlüsselmächtigen Altvorderen. Ein Schattenpräsident. Deshalb jetzt mal Hand aufs Herz: Wer ist eigentlich der Chef hier? Da müssen beide lachen. Nacheinander. Lemke, altersmilde: „Wenn einer was will, sage ich ihm, er soll sich an Peter wenden. Der hat die Entscheidungsgewalt.“ Thieß, zustimmend: „Er ruft mich dann an, damit ich das abnicke. Aber wenn es um den Platz geht, hat er das letzte Wort. Schluss, Aus, Feierabend.“ Thieß muss weiter. Bis bald, sagt er. Bis bald, sagt auch Lemke.

„Hier bin ich der Herrscher, das ist meins.“

Tabak und Trophäe: Baldur Lemke raucht Kette, den Pokal aber gab es nicht für die Bestleistung von 60 Kippen am Tag, sondern zur Einweihung des Vereinsheims.
Tabak und Trophäe: Baldur Lemke raucht Kette, den Pokal aber gab es nicht für die Bestleistung von 60 Kippen am Tag, sondern zur Einweihung des Vereinsheims.

© Sebastian Dudey

13:00 Uhr

Eine Stunde vor dem Anpfiff des Heimspiels der ersten Mannschaft verlässt Lemke tatsächlich das Casino, läuft, schlurfend, schwer atmend, vorbei an den Kabinen, zum ersten Mal an diesem Tag raus auf den Platz, auf seinen Rasen; wie einer, der das schon ein Vierteljahrhundert macht, darüber alt geworden ist. Auf Höhe des Fünfmeterraums bleibt er stehen, tiefes Einatmen, fließendes Grün, sagt dann: „Der alte Mann und das Meer.“ Hätte man ja nicht viel besser sagen können an dieser Stelle, wie er da so steht: Und Lemke sagt nun auch noch, die Hand wandernd von Strafraum zu Strafraum: „Hier bin ich der Herrscher, das ist meins.“ Territorium mal eben, in wenigen Atemzügen, minimalste Gesten, abgesteckt. Dann empfängt er die Gäste aus Neukölln, zeigt ihnen die Kabinen, ein bisschen auch Herbergsvater, erklärt kurz die Hausregeln: „Die Töppen nicht im Handwaschbecken waschen, verstanden?“ Verstanden! Lemke schließt die Tür zwischen Platz und Kabinentrakt. Wir heizen hier schließlich nicht für draußen. Auf einem Zettel steht dort: „Nach dem Training die Tore wieder anschließen. Danke. Ihr Bademeister.“ So viel Spaß muss sein.

Drinnen dann wieder: Rauchen. Sitzen, rauchen, sitzen, warten.

14:20 Uhr

Mitte der ersten Halbzeit schiebt sich Lemke wieder aus der Tür des Casinos, um mal zu schauen, was die Jungs da heute so treiben. Draußen kommt ihm der Geschäftsführer entgegen. Kurzer Dialog. „Hier funktioniert alles, oder Baldi?“ Lemke schaut nur kurz hoch: „Ich werde das Kind schon schaukeln.“ Dann stellt er sich zu den anderen an die Seitenlinie, neben die typischen Sonntagnachmittagsfußballplatzgespräche, die Spielfeldrandwahrheiten. Es wird jetzt einfach ein bisschen sinnlos dahergeredet, die ein oder andere freundschaftliche Beleidigung auf den Platz gerotzt. Als sich einer der Spieler die Wade hält, sagen sie: „Siehste, jetzt beginnen die Suffkrämpfe.“ Sagen auch: „Wenn’s wehtut, mach’ ein Hello-Kitty-Pflaster drauf.“ Lemke sagt: nichts.

Mit Lemke in der Nähe ist aber in dieser Gegenwart auch die Vergangenheit nicht weit, steht sie gleich mit an der Seitenlinie. Lemke: Almanach des Ostfußballs, Blankenburger Gedächtnis. Selbstverständlich ist, dass es in einer solchen Runde, Kiebitz-Gezwitscher, deshalb unmittelbar die Früher-Dusche gibt, deren Sätze in der Regel mit einem „Stimmt’s, Baldi?“ enden, als müssten sich die Männer, alle jünger als Baldur, bei Lemke erst die Absolution ihrer eigenen Erinnerungen abholen. Jetzt also: DDR-Retrospektive.

„Damals“, sagt einer, Blankenburg-Schal um die Schultern, der ausgestreckte Arm weist nach jenseits des Platzes, ,„mussten wir uns noch da hinten in den Baracken umziehen, stimmt’s Baldi?“ Stimmt. „Da gab es keine Duschen. Wir haben uns noch in der Kuhtränke gewaschen. Auch im Winter.“ Stimmt auch. Und natürlich bringt er auch gleich noch einen der Evergreens der Schraubstollennostalgie: „Da war Fußball ja auch noch ein Männersport. Da wurde noch nicht so viel geheult." Stimmt’s Baldi? Aber Lemke schweigt nur, schaut, schweigt und sagt schließlich: „Die Jungs spielen einen guten Ball heute.“ Ruhe. Ende der Diskussion. Machtwort. Auf dem Platz. Dort, wo angeblich die Wahrheit liegt, wo entscheidend ist, quatscht Lemke eben keiner dazwischen.

So war das schon vor der Wende, in der DDR. Das gehört dazu, Platzwartfolklore, ist Teil der Show. Wenn Baldur Lemke hier aufhört, Straße 18, sein Leben, geht auch einer der Letzten seiner Art. Einer von früher, Original und Zeitzeuge, der, sobald er sich das Sitzkissen unter den Arm geklemmt hat, einen freien Platz zurücklässt. Und einen Vorsitzenden, der noch keine Antwort gefunden hat auf die Frage nach dem Danach. Die Zeit nach Baldi. Sicher ist nur: Einen hauptamtlichen Platzwart, einen vom Bezirksamt, wird es in Blankenburg nicht geben. Sie müssen sich was einfallen lassen. Lemke aber sagt: „Ich glaube nicht, dass der Fußball hier ohne mich kaputt geht.“

"Ich mache das hier, bis ich mir die Radieschen von unten anschaue."

"...wo Fußball noch Spaß macht.": Ein Leben ohne den Platz, seinen Jungbrunnen, ohne die SG Blankenburg kann sich Lemke nicht vorstellen. Er will hier auch seinen 120. feiern.
"...wo Fußball noch Spaß macht.": Ein Leben ohne den Platz, seinen Jungbrunnen, ohne die SG Blankenburg kann sich Lemke nicht vorstellen. Er will hier auch seinen 120. feiern.

© Sebastian Dudey

Kurz vor 16 Uhr

Abpfiff. Blankenburg hat die Tabellenführung in der Kreisliga durch ein Tor in der letzten Minute der Nachspielzeit verteidigt. Schulterzucken bei Lemke, er hatte nichts anderes erwartet, schließlich haben die Jungs in der zweiten Hälfte auf das Vereinsheim gespielt: „Ich habe doch gesagt, die schießen noch eins. Das ist hier die Schokoladenseite.“ Aus Erfahrung unaufgeregt. Im Casino, dritte Halbzeit, gut gefüllt, leitet er nun den Feierabend ein. Schnäpperken und Wasser. Heidi zapft Siegerbiere, stellt sich dann auf eine Zigarette dazu. Auf ihrer Stirn glänzt der Schweiß. Wie lange wollen sie das hier noch machen?

Sie schaut ihren Mann an, wa! Schatzi, sagt dann: „Ans Aufhören ist nicht zu denken, wir machen das noch so lange wie es geht. Und was wir nicht können, können wir eben nicht.“ Um sie herum schwillt der Lärmpegel an. Verschwitzte Spieler, Kinder mit Limonade, flirrende Stimmen. Ihr Wohnzimmer. „Dieses Umfeld, das ist wie eine zweite Familie für uns. Wenn wir hier aufhören müssten, wäre das, als würden die Kinder ausziehen.“ Heidi, brüllt einer, machst du noch zwei. Heidi, meine Sonne. „Ich sag’ mal“, sagt sie dann noch: „Da fehlt die Seele, wenn man dann nur noch sich alleine hat.“ Dann geht sie und macht noch zwei. Lemke legt eine Hand an sein Glas, Schnäpperken: „Ich mach das hier noch so lange, bis ich mir die Radieschen von unten angucke.“

So sagt er das. Und lacht. Die Radieschen, der Tod. Alles auch nur ein schlechter Witz, dessen Pointe man mal eben mit einem Herrengedeck herunterspült. Lustig. Typischer Baldi-Spruch, Ostpreußenhumor, DDR-Entbehrungshumor. Was uns nicht umbringt, macht uns hart. Auf seinem 70. hat er inmitten der Freunde, Mitglieder, Wegbegleiter gestanden und eine kurze Ansprache gehalten, keine halbe Zigarettenlänge, Route 66: „Ich hoffe, dass ich euch alle gesund und munter wiedersehe zu meinem 120. Geburtstag.“ Ja, ja, der Baldi, sagten sie da, sagen sie auch jetzt. Er stürzt das Glas. Morgen um acht wird er wieder hier stehen. Die Radieschen können warten.

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