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Hatice Akyün.

© Andre Rival

Mein Berlin: Alle sollen kommen

Mehr Metropole als in Berlin ist in Deutschland nicht zu finden, meint unsere unsere Kolumnistin Hatice Akyün. Jeder, der Berliner Luft schnuppern kommt, kann sich davon überzeugen.

Ich hatte einen waschechten Berlin-Touristen zu Gast. Nicht wie früher, als ich noch in Mitte wohnte und jede noch so spontane Begegnung in einem Bord-Bistro der Bahn auf eine Tasse Kaffee dazu führte, dass man irgendwann eine E-Mail erhielt, ob man ein Plätzchen zum Schlafen zur Verfügung stellen könne. Natürlich nur, wenn es keine Umstände mache. Damals habe ich als Neuberlinerin diesen Dienst gerne geleistet. Hätte ich Geld dafür genommen, wäre das Thema Altersvorsorge für mich heute erledigt. Aber nachdem der gemeine Berlin-Tourist schon vorher weiß, was er sehen muss, um seinen Eindruck von der Bundeshauptstadt zu verfestigen, verliert man sehr schnell die Lust an dieser Art von bürgerschaftlichem Engagement. Obwohl wir Türken ja zu den gastfreundlichsten Menschen der Welt gehören sollen. In jedem Reiseführer steht sogar, dass man unsere Gastfreundschaft auf keinen Fall verschmähen darf.

Berlin hat sich als Touristenmetropole auf Platz 3 der europäischen Hauptstädte hochgearbeitet. Nur London mit 40 Millionen und Paris mit 32 Millionen Übernachtungen liegen noch vor Berlin. Wir haben in Wirklichkeit schon längst die Übernachtungsstatistiken der anderen Metropolen dadurch übertroffen, weil wir schlichtweg nicht Nein sagen können. Im Nachhinein betrachtet hat mein Umzug von Mitte nach Charlottenburg meine Sozialkontakte außerhalb Berlins rapide gesenkt. Weil Charlottenburg eben nicht zentral genug liegt, um alle touristischen Bedürfnisse in kürzester Zeit zu erfüllen.

Genau genommen sind wir der permanent tagende Integrationsgipfel der 16 Bundesländer, die mit ihren unterschiedlichen Sozialstrukturen, Lebensverhältnissen und regionalen Eigenarten hier aufschlagen, um die berühmte Berliner Luft zu schnuppern. Das sorgt für Begegnung und Dialog. Bevor wir also über die Integration der Migranten reden, sollten wir doch mal über die Seltsamkeiten der 16 Bundesländer und ihrer Bewohner diskutieren.

Ich sage es Ihnen ganz direkt ins Gesicht: Da liegt ein Plan dahinter. Ein kluger obendrein. Unsere Stadt ist pleite, nicht in der Lage, aus eigener Kraft die Schulden zu begleichen und Investitionen für die Zukunft zu finanzieren. Das belegt schon jetzt der Wahlkampf: SPD – Berlin verstehen. Grüne – Berlin, da müssen wir ran. CDU – damit sich was ändert. FDP – die neue Wahlfreiheit. Berlin holt jeden in die Stadt, und alle sind begeistert. So viel Metropole gab es noch nirgendwo in Deutschland. Und keiner wird sich beschweren, dass Berlin weiter am Tropf des Länderfinanzausgleiches hängt. Denn Berlin ist klasse. Berlin ist sexy. Berlin ist total hip. Der Plan ist: „Holt sie alle her und infiziert sie.“ Jeder, der zurückgeht, wird sich überlegen, ob er nicht lieber in Berlin leben will.

Diese Woche startete die ARD mit ihrer neuen Programmstruktur der Talkshows. Das Ergebnis: Wir haben sie fast alle im Sack für unseren Plan. Anne Will und Günter Jauch sind schon hier. Sandra Maischberger und Frank Plasberg produzieren zur Hälfte bei uns. Nur Reinhold Beckmann hält noch an Hamburg fest. Vielleicht sollte ich ihm eine Übernachtungsmöglichkeit bei mir anbieten.

Wir sind die Stadt, die als Projektionsfläche alle Sehnsüchte bedient und deshalb niemals im Stich gelassen wird. Und der, der sich das alles ausgedacht hat, wird am Sonntag in einer Woche höchstwahrscheinlich wieder gewählt werden. Oder wie es mein Vater sagen würde: „Ya oldugun gibi görün, yada göründügün gibi ol – gib dich so, wie du bist, oder sei so, wie du dich gibst.“

Die Autorin lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Berlin. Ihre Kolumne erscheint jeden Montag.

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