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Mein Berlin: Import Export

Notizen aus der globalen Stadt von Hatice Akyün

Heute fliege ich beruflich in die Türkei. Dorthin, wo meine Eltern den Sommer verbringen und meine Schwester, Nichten, Tanten, Onkel und Cousinen mütterlicherseits leben. Ich habe kurz überlegt, ob ich meine Reise vor meiner Familie verheimlichen soll. Es war allerdings nur ein sehr flüchtiger Gedanke. Wenn meine Familie erfahren würde, dass ich den Besuch verschwiegen habe, würde das passieren, was ich eine Türken-Tragödie nenne. Man muss sich das ungefähr so vorstellen, zum Beispiel die Reaktion meiner Mutter: „Du brauchst auch nicht mehr an mein Grab zu kommen, wenn ich tot bin.“ Vater: „Ich habe nur noch fünf Kinder.“ Schwester: „Dass du es mir nicht gesagt hast, kann ich dir verzeihen, aber wie konntest du das unseren alten, gebrechlichen Eltern antun?“ Andere Familienmitglieder: „Wie kannst du nur so herzlos sein, Hatice?“ Also rief ich an, um ihnen zu sagen, dass ich kommen würde, aber kaum Zeit hätte, ausgiebige Verwandtschaftsbesuche zu absolvieren. Die Nachricht verbreitete sich in einer Art Stille Post. Ich erzählte es meiner Mutter, sie meiner Schwester und die dem Rest der Familie. Es dauerte keine zehn Minuten, bis ich eine Einkaufsliste zugeschickt bekam. So habe ich Tage vor meiner Abreise damit verbracht, sämtliche Geschäfte in Berlin abzuklappern, um die Liste abzuarbeiten. Mein Koffer ist nun gefüllt mit Schokolade, Marmelade, Kondensmilch, Kaffee, Filtertüten, Müsli, Paprikachips, Zahnaufheller sowie Anti-Pickel-Waschgel, Brillenputztüchern, Sandwichmaker, elektrischen Zahnbürsten und einem Glätteisen.

Wenn wir früher in den Sommerurlaub nach Anatolien gefahren sind, wurde der Mercedes bis auf den letzten Millimeter gefüllt. Die Geschenke der Verwandten aus Deutschland für die Verwandten in der Türkei wurden in Kisten auf dem Dachgepäckträger verstaut. Damals gab es in der Türkei kaum deutsche Marken. Diese Zeiten haben sich längst geändert. Die Markennamen sind zwar deutsch, produziert werden sie aber in der Türkei: Kühlschränke, Waschmaschinen, Flachbildschirme, Fernseher. Wo Grundig draufsteht, ist Koc drin. An jedem Büdchen in der Türkei gibt es Gummibärchen, Nutella und Milchschnitten zu kaufen. „Nein, nein, die heißen zwar so, schmecken aber ganz anders“, erklärt meine Schwester. Dass alles wahrscheinlich gleich schmeckt und es nur etwas mit der anderen Umgebung zu tun hat, ist eine Diskussion, die kein gutes Ende finden würde. Der Glaube versetzt bekanntlich Berge und bringt mich an die Grenze von kostenpflichtigem Übergepäck.

So muss ich selbstverständlich die Liebesgaben der Verwandtschaft, die man mir aus der Türkei mitgibt, zurück nach Berlin transportieren. Es ist völlig zwecklos zu betonen, dass man nahezu alle eingepackten Produkte türkischer Genusswaren in Berlin mittlerweile an jeder Ecke bekommt. Ich nenne das türkischen Familienkommunismus – jeder gehört jedem, und jeder ist für jeden da.

In der Türkei gibt es 4500 deutsche Unternehmen, die Produkte und Dienstleistungen anbieten, von der Urlaubspension bis zum Omnibusbau, vom Call-Center bis zur Windkraftanlage. In Deutschland werden 70 000 Unternehmen von türkischen Migranten geführt und bieten 350 000 Menschen Arbeit. Damit erwirtschaften sie einen Umsatz von 35 Milliarden Euro. Wächst da doch noch was zusammen, was zusammengehört? Der türkische Präsident Abdullah Gül sprach kürzlich bei seinem Berlin-Besuch über die engen Handelsbeziehungen beider Länder. Wir bestreiten ein Handelsvolumen von 40 Milliarden Dollar, und unsere Exporte in die Türkei stiegen dieses Jahr um 45 Prozent. Und das, obwohl ich meine Familie erst zum zweiten Mal in diesem Jahr besuche. Oder wie mein Vater sagen würde: Yarim elma gönül alma – ein Herz kann man auch mit einem halben Apfel gewinnen.

Die Autorin lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Berlin. Ihre Kolumne erscheint jeden Montag.

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