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Berlin: „Mein Leben hier ist Immigration und Urlaub zugleich“

Claus Peymann, Chef des Berliner Ensembles, ist bewusst in den Osten gezogen. Er lebt in Köpenick – und nachts besuchen ihn die Wildschweine

Als ich das Berliner Ensemble in Mitte übernahm, bin ich ganz bewusst in den Osten der Stadt gezogen: Ich wollte nicht erscheinen wie ein Kolonialherr, der von Wilmersdorf oder von Grunewald aus mal „die DDR“ auf Vordermann bringen will.

Zuerst habe ich in Pankow gewohnt. Aus meiner Wohnung dort musste ich aber ausziehen, weil der Eigentümer Eigenbedarf anmeldete. Da brach eine gewaltige Suche aus, das ganze Theater hat mitgemacht. Aber mir wurden immer nur diese SchickiMicki-Villen in Grunewald angeboten oder diese wahnwitzig teuren Dachwohnungen in Wilmersdorf.

Über eine Anzeige bin ich schließlich an dieses Haus geraten – ein Haus, wie ich es schon immer mal haben wollte: eine Jugendstilvilla, schmal und hoch, mit zwei Giebeln und einer dicken Dame aus Sandstein, die das Vordach trägt. Der Wintergarten sieht aus wie ein Schiffsbauch und im Garten stehen gewaltige Kastanien. Ich bin eingezogen, nicht ahnend, in was für ein Paradies ich da gelangt bin.

Gut, als Stadt muss sich Köpenick erst wieder finden. Die Infrastruktur verfällt immer mehr: Im letzten Jahr wurden viele Bäder geschlossen, und auch diese kleinen Tante-Emma-Läden gehen kaputt. Und wenn ich ins Konzert gehen möchte oder in ein nettes Lokal – das muss ich in Mitte machen. Für Luxus fehlt in Köpenick eben die Klientel, man achtet hier auf sein Geld.

Mein Leben hier ist Immigration und Urlaub zugleich. Wenn ich abends über die Köpenicker Straße nach Hause fahre, dann ist das wie die Reise in ein anderes Land. Die Luft wird anders, das Licht wird anders, die Geräusche werden anders. Köpenick hat eine ganz eigene Stimmung: ein Gemisch aus den Überresten der alten DDR-Bourgeoisie und Schrebergarten.

Ich kann nicht sagen, dass ich hier wirklich zu Hause bin – mein Zuhause ist das Theater, dort verbringe ich die meiste Zeit. Und Theatermenschen sollten immer in einem Zustand des Aufbruchs sein. Aber es gefällt mir sehr, dass im Frühjahr bei mir nächtelang eine Nachtigall singt: meine Köpenicker Callas. Und hinter meinem Garten öffnet sich gleich der Köpenicker Forst. Jede Nacht läuft dort eine Wildschweinherde auf, 15 bis 25 gewaltige Tiere. Ich entsichere jedes Mal meine Wasserpistole und lege die Scheinwerfer bereit, weil ich denke, jetzt kommt der endgültige Überfall. Aber die wälzen sich nur friedlich im Schlamm.

Außerdem kann ich mich hier viel im Grünen bewegen. Wenn ich mich bewege, kann ich gut an den Szenen arbeiten, die ich gerade probe. Ich kann nicht inszenieren, wenn ich am Schreibtisch sitze. Und 50 Meter von meinem Haus entfernt liegt der Lange See, dort gehe ich immer schwimmen – genau auf der Hauptschifffahrtslinie. Irgendwann wird mich noch einer von diesen Kohlekreuzern rammen. Am Rande des Sees gehe ich auch jedes Wochenende joggen.

Doch, ich habe es gut getroffen, das wusste ich von Anfang an. Als ich einzog, habe ich immer wieder Sonnenblumen am Zaun gefunden, mit kleinen Briefchen: Viel Glück. Aufgezeichnet von Anne Seith

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