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Meine Heimat: Berliner Liste

Hatice Akyün erstellt ihr Ranking zum Abschluss des Jahres.

Spätestens jetzt merke ich, dass das Jahr zu Ende geht. Wobei ich mich frage, ob die Listeritis nur deshalb um sich greift, weil Tote-Hosen-nix-los- Zeit ist oder der Jahreswechsel bevorsteht? Listeritis? Noch nie gehört? Ganz einfach, alles vom vergangenen Jahr wird gelistet. Die 100 peinlichsten Berliner (gewonnen hat übrigens Bushido), die 10 besten Filme, die besten Zitate des Jahres, die Tops und die Flops. In diesem recht willkürlichen Recycling von Altmeldungen und aufgewärmten Peinlichkeiten geht es mir so wie beim Horoskop – ich glaube zwar nicht dran, lese sie aber trotzdem.

Was treibt uns an, alles und jeden zu bewerten, oder neudeutsch formuliert, zu ranken? Bringt es etwas, den Flughafen in die Mehdorn-Liste der Unternehmen aufzunehmen, die er nach den Heidelberger Druckmaschinen, der Deutschen Bahn und Air Berlin kaputtmurkst? Soll sich Wowereit darüber freuen, dass er nur noch auf Platz 9 der peinlichsten Berliner ist? Oder muss ich in Ekstase geraten, weil Berlin international das beliebteste Reiseziel innerhalb Deutschlands ist, mit Platz 11 nach Paris, New York, Venedig und anderen hippen Metropolen? Und was bedeutet es, dass wir Hauptstädter mit 51 Prozent Singles Platz eins sind, aber die Männer laut eines Männermagazins nur Platz 22 in der Kategorie Liebe und Partnerschaft, obwohl wir einer Vermittlungsbörse zufolge Platz 4 der Städte mit den attraktivsten Frauen belegen?

Das nenne ich die Schiedsrichterkrankheit. Indem man auf andere mit dem Finger zeigt, kommt man drum herum, sich eigenen Höhepunkten und Tiefschlägen zu widmen. Und die sind zwar oft fremdbestimmt, aber meistens durch eigenes Verhalten beeinflusst. Jedes Jahr nehme ich deshalb meinen Terminkalender zur Hand und mache meine eigene Liste. Ich gehe Seite für Seite durch und schreibe auf, was gut gelaufen ist und was schiefging. Wenn ich das nicht machen würde, blieben mir nur die negativen Erfahrungen in Erinnerung. Die tollen Momente und geglückten Aktionen, die vielen interessanten Begegnungen und die schönen Erlebnisse, sie blieben auf der Strecke.

Noch ein Aspekt kommt in dieser aufs Kalenderjahr reduzierten Betrachtung zu kurz. Manche Dinge brauchen einfach viel mehr Zeit, um zu gelingen. Bei meinen Neffen und Nichten bin ich zum Beispiel zurzeit megaout. Ich bin für sie so gar nicht Babo. Dass man mit mir nur ohne Smartphone abhängen kann, ist noch die geringste Ursache für meinen Ansehensverlust. Der Hauptgrund liegt darin, dass ich den Nachwuchs mit Büchern belästige. Die haben keinen Touchscreen, sind nicht mit dem Netz verbunden und erfordern doch glatt mehr Aufmerksamkeit als für einen Videoclip auf Youtube. Nun, da muss ich jetzt leider durch. Mit einer latenten Ungewissheit hoffe ich, dass sie es mir eines Tages hoch anrechnen werden.

Listen und Rankings bilden nur eine Momentaufnahme ab. Und vor lauter Wertungstäfelchen, die andere über andere erheben, sollten wir nicht übersehen, dass andere auch unser eigenes Wirken und Tun bewerten. Wir sind, ob wir es wollen oder nicht, Akteure und keine Zuschauer unseres eigenen Lebens. Oder wie mein Vater sagen würde: „Iyilik yap denize at.“ Tue Gutes und wirf es ins Meer.

Hatice Akyün ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in

Berlin zu Hause. An dieser Stelle schreibt sie immer montags über ihre Heimat.

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