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Meine Heimat: Meine Qual

Hatice Akyün wusste lange nicht, ob sie überhaupt zur Urne gehen sollte.

Mit 25 Jahren durfte ich das erste Mal in Deutschland wählen. Viel lieber hätte ich das schon mit 18 getan, aber mir fehlte der deutsche Pass. Den habe ich nicht bekommen, weil er in den neunziger Jahren nicht nur einige 100 Mark kostete, man musste auch nachweisen, dass man keine staatlichen Zuwendungen bezog. Von denen lebte ich aber als Studentin. So blieb mir nichts anderes übrig als zu warten. Vielleicht ist das der Grund, warum ich bis jetzt zu jeder Wahl gegangen bin, seit ich wählen darf. Kommunalwahl, Landtagswahl, Bundestagswahl – sogar die Europawahl habe ich nicht ausgelassen. Ich bin jene Generation, für die Bundeskanzler Helmut Kohl ein zusammengesetztes Hauptwort war. Dazu bin ich noch aus Duisburg, einer Berg- und Stahlarbeiter-Stadt, in der man die Sozialdemokratie mit der Muttermilch aufsog und dafür, wenn nötig, auch kämpfte.

Als junges Mädchen brachte ich den Stahlarbeitern auf der „Brücke der Solidarität“ in Rheinhausen belegte Brötchen und Kaffee. Mit meinem Vater, einem Bergmann, ging ich gegen Kurzarbeit und Subventionsabbau auf die Straße. Ich warf bei Naziaufmärschen mit meiner Freundin Gunilla, Tochter einer linken Familie, Pflastersteine. Bis heute habe ich immer brav meine Kreuze bei der einen Partei gemacht, auch wenn meine Hoffnungen sich immer wieder als Illusionen erwiesen. Man muss kein Parteibuch besitzen, um durch und durch sozialdemokratisch zu sein. Taktisch wählen konnte ich aber auch noch nie, meine Erststimme habe ich nicht verplempert. Ich ging zur Wahl nicht aus rückhaltloser Zustimmung, sondern suchte nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner, weil ich mir die perfekte Partei eben nicht backen kann. Nichtwähler erleichtern den Parteien den Einzug ins Parlament, motivierte ich mich bisher bei jeder Wahl. Und ich wollte mit meiner Stimme verhindern, dass bestimmte Parteien nur ihre Klientel bedienen. Mein Parlament sollte mit meiner Unterstützung das ganze Volk im Fokus haben.

Schlaflose Nächte, ein schlechtes Gewissen und der Spott meiner Freunde plagten mich in den letzten Wochen. Ich wähle diesmal nicht, es ist nichts für mich dabei, argumentierte ich enttäuscht und getäuscht. Dabei bin nicht einmal politikverdrossen. Ich kann mich um Kopf und Kragen reden, wenn es um die Volksvertreter geht. Wie konnte es nur soweit kommen, dass ein Mensch, der durch und durch politisch ist, nicht wählen gehen will? Europa als großer EC-Geldautomat, kein Angebot, das uns eine lebenswerte Rente zusichert, ganz abgesehen davon, dass die Parteien die wachsende Schicht von prekär Beschäftigten maximal mit einem Mindestlohn abzuspeisen versuchen. Das waren nur einige Gründe, mich zu verweigern. Aber dann fiel mir Rheinhausen ein, die Mutigen und Beherzten, die sich engagieren, und was ich durch meine Wahl für andere tun kann. Und so beschloss ich, meine Kreuze diesmal woanders zu setzen. Vielleicht würde ich in NRW ganz anders wählen als in Thüringen oder Bayern. Aber Zukunft braucht Ideen. Oder wie mein Vater sagen würde: „Bos laf karin doyurmaz.“ Klagen füllt keinen Magen.

Hatice Akyün

ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause. An dieser Stelle schreibt sie immer montags über ihre Heimat.

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