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Jan Zabel wuchs in der Sprengelstraße auf

© privat

Meine Kindheit im Sprengelkiez: Michi aus der 24

Die Sprengelstraße in den 80er Jahren. Eine Kindheit zwischen Sesamstraße, Kohlenbriketts und dem Sexkino an der Ecke. Bis der kleine Michi in den Vorabend platzt. Und alles plötzlich anders ist. Unser Autor erinnert sich.

„Frau Zabel, Sie müssen mal kommen, ich glaube meine Mutter ist tot.“ Was da aus dem Mund meines Klassenkameraden Michael Koehler herauskam und in unsere Wohnung flutete, war eine Sprechblase, die so leer war, dass sie bei mir nur für ein Stirnrunzeln reichte. Was meinte Michi? Tot?

Wir waren nicht jung, sondern tatsächlich noch klein. Er war kleiner als ich. Großer Kopf, dünne Arme und Beine, dazwischen nichts, was versprach mal eine breite Brust zu werden, klappernde Augendeckel, die er schloss, wenn er sprach, papierne, blau geäderte Haut, braune strähnige Haare. Eine verstörende Mischung aus zart und zäh. Ein Weddinger Pinocchio mit einem Vater, der nachts Wache stand.

Leute im Film waren tot, das hieß: weg. Winnetou starb, was zu verschmerzen war, er war ja in der folgenden Woche beim „Schatz im Silbersee“ schon wieder lebendig. In der „Bugs Bunny Show“ bekam der Verlierer der Folge den dicksten Verband, im Western starben nur die Bösen. 

Mütter starben nicht.

Diese Lebenszone lag im diffusen Nachher, so weit weg wie: „nach den Sommerferien.“

Es war spät im Jahr. Eine Zeit, in der nach den Hausaufgaben und vor der Sesamstraße in der Wohnung Licht eingeschaltet wurde. Fenster blieben zu. Rauchig und trüb stand ab Ende Oktober die Luft im Kiez zwischen den Häusern, der Kohlenhändler belieferte die Stiegen mit Briketts und Eierkohlen im Sack. Verschwitzt und so rußig, dass der Schornsteinfeger dagegen ein Saubermann blieb. Gegenüber in der „Torfbaude“, auf der Ecke Sprengelstraße / Torfstraße, war gerade die Bierampel angegangen und unten im Haus das gelb leuchtende Horn der Postfiliale erloschen. Die Osterkirche einen Block weiter gongte mehr, als dass sie läutete, immer um sechs zur Abendandacht. Christliche Bastion im morgenländischen Straßenzug. Die Tageszeit wechselte mit dem Gongschlag. Wenn die Straßenlaternen angingen, mussten wir nach Hause.

"Michael kann noch zum Spielen bleiben"

Michael war in den Minuten auf dem Weg zu uns ins Eckhaus, Nummer 25a, dritter Stock, gleich ein paar Jahre gealtert, ohne es allerdings selber zu merken. Pinocchio hatte ins Feuer gesehen. Für Schmerz war vor lauter Unverständnis kein Raum in dem kleinen Menschen. Meine Mutter goss mehr Milch in den Kakaotopf, so dass es für zwei Kindsköpfe reichte. Sie sagte: „Michael kann noch zum Spielen bleiben, wenn ihr ausgetrunken habt.“ Dann zog sie sich eine Jacke an, ließ sich von Michi den Hausschlüssel geben, und sagte sehr klar: „Na dann sehe ich mir das mal an.“ Dann ging sie ins Treppenhaus, in dem es immer nach dem Frittenfett von Yassirs marokkanischem Schnellimbiss im Erdgeschoss roch, und weiter auf die Straße.

Vor der „Torfbaude“ sammelten sich die ersten Volltrunkenen zum allabendlichen Pöbeln und Schubsen. Sprengelstraße 24. Im Vorderhaus Berlins ältestes Sexkino „Zur Alten Manier“, ich brauchte lange, bis ich verstand, was die rote Laterne und die immer verschlossene Tür in der schwarzen Holzvertäfelung zu bedeuten hatten. Ein aschegraues Hinterhaus, nachts mehr ein zahnloser Schädel mit toten Augenhöhlen, dazwischen ein unbeleuchteter Hof, in dem es nach Pisse roch, knarrende Treppe, erstes Obergeschoss links, Michis kalte Kinderstube. Zwischen unseren Haustüren keine 20 Meter, aber trotzdem alles anders.

Gegenüber der 24 die Häuser 23 und 22. Fest in orientalischer Hand. Im Sommer saßen die türkischen Mütter vor den geöffneten Parterrefenstern, strickten, schimpften, lachten. Der Chef der linken Straßenseite war Oktay mit seiner tiefen Narbe auf der Wange. Er sprach kaum. Zur Schule liefen wir links die Straße rauf, er rechts. Jeder blieb für sich. Auf dem Schulhof spielten die „Türken“ Fußball auf dem Hinterhof, die „Deutschen“ Cowboy und Indianer auf dem Vorderhof. In ihrer Heimat war Revolution, bei uns flogen im Unterricht die Stühle. Im Hort spielten wir am Nachmittag mit Erzieherin Gabi, Messud und Oktay von Gegenüber dann „Mensch ärgere Dich nicht“, an guten Tagen auch mal Memory, oder wir tauschten Bundesligasticker.

"Der Herr Koehler hat jetzt Zähne"

Meine Mutter hielt sich bei Michaels Mutter nicht mit Details wie Pulsfühlen oder Ansprechen auf. Sie rief gleich die Polizei und Vater Koehler an. Michael blieb dann ein paar Tage bei uns, ohne zu fragen oder nach Hause zu wollen. Wenn meine Mutter abends nach Hause kam, gab es Nudeln, Schnitzel und Lasagne. Michael und ich kamen prima miteinander aus und fuhren dann sogar noch eine Woche zu meiner Oma. Die sieben Tage in Wolfsburg waren für Michael das erste große Abenteuer. Am Abend war die letzte Frage immer: „Und was machen wir morgen?“ Viel passierte eigentlich nicht. Spazieren im Wald, abends Schnittchen und Zitronenbrause.

Meine Mutter gab in der Woche Vollgas: Sie erklärte dem aus Thüringen geflüchteten Witwer Koehler, wie das in Westberlin so funktionierte mit dem Wohngeld und der Sozialhilfe und dem Kindergeld. Hatte er sich ja nie drum kümmern müssen. Danach sammelten sie zusammen Flaschen aus den versteckten und toten Winkeln der Wohnung. Als meine Mutter und Michaels Vater uns nach dem Besuch bei Oma am Busbahnhof abholten, schaute Michi in ein so ganz anderes Vatergesicht. Etwas war tatsächlich anders. Ich befragte meine Mutter dazu im Flüsterton. „Ja“, sagte sie, „der Herr Koehler hat jetzt Zähne“.

Ferien kamen. Michael ging in die dritte Klasse. Ein zweites Mal. Ich nicht. Es fiel dem Kurzen schwer, Anschluss zu halten. Wache Augen, ein schwerer Kopf in dem nicht leicht was hängen blieb. Michi hatte kein Aufmerksamkeitsdefizit. Er hatte nur schon zu viel gesehen. Zwischen uns legte sich ein Nebel aus Bildung und Fremde. Wir verloren uns aus den Augen.

Er sollte Offizier werden

23 Jahre sind vergangen, ohne nach Pause zu fragen. Es ist wieder November. Ich laufe nach zwei Stunden spätherbstlicher Zukunftsträumereien und Lust auf Rumkakao und Glühwein mit meiner Begleiterin auf den Parkplatz von Schloss Sanssouci in Potsdam. Den Kopf zwischen den Schultern im klammen Herbstniesel, zwängt sich die Vergangenheit durch einen Türspalt. Ein kleiner Mann. Reißt Parktickets ab, kassiert Gebühren, wasserblaue Augen, weißes Haar, graue Lederjacke. Witwer Koehler. Michis Vater. In den Duft vom nassen Novemberlaub mischt sich der des Treppenaufgangs in der Sprengelstraße. Ich stelle mich vor und frage nach Michi. Der alte Mann umarmt mich, klein und biegsam wie eine Tundrabirke. Die Stimme wird fest und die müden Augen flackern auf: „Der Michi wurde Panzergrenadier, da in der Bundeswehr. Sollte sogar Offizier werden. Die haben ihn vorgeschlagen. Aber er ist da weg. Das mit den Befehlen und dem Militär, das war nicht so richtig für ihn. Der war immer ein Dickkopf.“

Dann grinst er breit, und der schlammige Parkplatz ist auf einmal ganz kurz wieder Busbahnhof. Einmal winkt er noch, lächelnder kleiner Mann im Rückspiegel, als wir durch Matsch und Schlaglöcher vom Parkplatz schaukeln.

Jan Zabel

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