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Berlin: Merle Will (Geb. 1994)

"Du denkst, du bist was Besonderes." Genau das wollte sie nicht sein.

Zwölftausend Menschen warten hierzulande auf ein Spenderorgan. Dreitausend Menschen starben letztes Jahr, weil sich nicht rechtzeitig ein Spender für sie fand – denn nur jeder Siebte von uns führt einen Spenderausweis mit sich.

Auch Merle musste warten. Seit Ende 2006. Im Oktober des letzten Jahres wurde ihr Bedarf als „high urgent“ eingestuft, sie wurde „gelistet“. Von nun an musste sie die Wartezeit im Krankenhaus verbringen. Es konnte einige Tage dauern, aber auch mehrere Monate. Sie hat die quälende Ungewissheit hingenommen, weil sie hoffte, dass danach alles wieder gut sein würde: Reiten, Hockey spielen, ein neues Leben führen. Sie hätte stundenweise nach Hause gehen können, aber das wollte sie nicht.

Jeden Tag hatte sie Besuch in dieser Zeit, von ihren Eltern, den Geschwistern, den Freunden. Sie fand eine neue Freundin, Patientin, Zwilling wie sie, „du bist mein Zwilling, wir sind das Sternenduo“. Sie haben Sterne gebastelt, große Sterne, es war ja Vorweihnachtszeit.

Sie freundete sich mit einer Mutter an, deren sechs Monate altes Baby auch auf ein Herz wartete. Merle durfte das Kind auf den Arm nehmen. Sie wäre selbst so gern Mutter geworden, irgendwann. Mit zwölf Jahren hatte sie sich gemeinsam mit ihrer Freundin einen Kinderwagen gekauft und ihre Puppe spazieren geführt. Da war sie bereits schwer krank, auch wenn man es ihr nicht ansah.

Als sie neun Monate alt war, wäre sie beinah an einem Atemstillstand gestorben. Ihre Mutter hat sie wiederbelebt. Die Diagnose: Wolff-Parkinson-White-Syndrom, zusätzliche Leitungsbahnen zwischen den Herzvorhöfen und den Herzkammern führen zu Herzrasen. Eine Spontanmutation, eine böse Laune des Schicksals.

Man kann damit alt werden, versicherten die Ärzte, es ist unangenehm, aber nicht lebensgefährlich. Sie wuchs heran, unbekümmert, und auch ihr Herz wuchs. Die Ärzte versuchten, die überflüssigen Leitungsbahnen zu veröden, aber es waren zu viele.

Als sie neun Jahre alt war, brach sie in der Schule zusammen, das Herzrasen hielt über eine Stunde an, 280 Herzschläge die Minute.

Die Diagnose: Kardiomyopathie, eine Erkrankung des Herzmuskels.

„Muss ich jetzt sterben?“, fragte sie auf der Notfallstation. Der Gedanke an den Tod nistete sich ein.

Sie war so quirlig und unbekümmert, ein Sonnenschein und Dickkopf, der wenig Rücksicht darauf nahm, dass sie sich schonen sollte, denn von nun an war ihr Sport verboten. Sie musste Medikamente nehmen, drei Mal am Tag, und sie musste mit der Angst fertig werden.

Die Zuversicht der Ärzte trog. Die Medikamente allein genügten nicht.

2006 ergab eine Biopsie, dass ihr Herz nicht mehr zu retten war. Es wog zum Ende hin 1200 Gramm, vier Mal so viel wie ein gesundes.

Merle hat viel mit sich selbst ausgemacht. Sie wollte ihre Eltern und ihre Geschwister schützen. Nach außen hin zeigte sie immer ein Lachen. Auf vielen Fotos, die ihre Freunde von ihr machten, auf dem kleinen Video auf Youtube, „Merle unser Engel“.

Zwei Mitschülerinnen mobbten sie, „du denkst, du bist so was Besonderes“, aber genau das wollte sie nicht sein. Sie wollte keine Aufmerksamkeit, sie wollte nur leben. Sie wurde ernster, dachte viel darüber nach, dass sie auf jemanden anderen angewiesen war, um weiterleben zu können.

Es muss jemand sterben – aber er stirbt nicht für den Spender. Kein Grund für Schuldgefühle. Das sagt sich so leicht. Es war ihr Wunsch, wenn ihr eines Tages etwas zustoßen sollte, selbst auch zu spenden. Ihren Organspenderausweis hat sie noch eigenhändig ausgefüllt.

Ihr Herz wurde schwächer und schwächer, die Ärzte mussten einen Defibrillator einsetzen. Das machte Angst. Dann die Nachricht: „Du wirst jetzt gelistet!“

Am Dienstag zündete sie in der Klinikkapelle eine Kerze an. Den Mittwoch verbrachte sie mit ihrer großen Schwester. Abends, um halb sieben, kam der Anruf des Deutschen Herzzentrums: Wir haben ein Organangebot.

Die Eltern und ihr kleiner Bruder eilten ins Krankenhaus. Noch war nicht sicher, ob es passt. Ihr Arzt flog mit, um das Herz zu holen. Merle wurde auf die Operation vorbereitet.

Die Familie wartete in ihrem Zimmer, Weinen, Hoffen, Trauern und eine große Müdigkeit. Nachts um zwei Uhr der Anruf: Das Organ ist ok!

Ihre Familie weckte sie: „Merle es ist so weit!“ Ein letztes Foto, da mochte sie nicht mehr in die Kamera sehen und nicht mehr lächeln, da saß sie nur auf ihrem Bett, im Krankenhaushemd, traurig.

Um fünf Uhr morgens kam sie in den Operationssaal. Um elf schien alles gut. Das neue Herz schlug.

Die Mutter ging zu ihr. Sie lag noch im OP-Raum. Sie war so warm, so rosig, sie schien so entspannt.

Merle ist nicht mehr aufgewacht. Innere Blutungen setzten ein. Leber und Lunge versagten. Sieben Mal wurde sie noch operiert. Das neue Herz war nicht zu retten. Am Sonntag wurde sie an die Herzlungenmaschine angeschlossen. Und sie wurde erneut gelistet. Aber es war zu spät.

Es sagt sich so leicht: Sie hatte ein großes Herz. Für sie war es ein Glück und ein Unglück zugleich. Für die beiden Empfänger ihrer Nieren war es ein Glück.

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