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Ohne Tel ... so nennt sich der Israeli Aviv Netter als DJ. Er organisiert seit sechs Jahren die Partyreihe „Meschugge“ mit Hits aus dem Nahen Osten.

© Georg Moritz

Meschugge-Party: Unkoschere Nacht

Seine schwul-jüdische Partyreihe Meschugge ist stadtbekannt. Ab heute sucht Aviv Netter Berlins in der Villa Neukölln bestes Musikvideo - mit einem neuen Award.

Erst beim zweiten Klingeln öffnet Aviv Netter die Tür, seine Augen sind verquollen, das Gesicht bleich. Es ist Dienstagnachmittag, er ist gerade erst wach geworden. Das Partywochenende ist dem 29-Jährigen anzusehen: „Das war die beste Meschugge-Party seit langem. Wir haben den israelischen Unabhängigkeitstag gefeiert“, erzählt er und macht sich einen Kaffee. Die kleine Küche in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung besteht nur aus Kühlschrank und Spüle, ein bisschen Dekoration hängt noch an der Wand – Netter renoviert gerade. Aus seiner bunt zusammengewürfelten Studentenbude soll eine Wohnung für Erwachsene werden. Schließlich werde er bald 30.

Aviv Netters „Meschugge“-Partys sind mittlerweile ein fester Bestandteil des Berliner Nachtlebens. Junge Israelis und Deutsche tanzen zu Charthits aus dem Nahen Osten. Höhepunkt jedes Abends ist das hebräische Volkslied „Hava Nagila“, spätestens dann sind alle auf der Tanzfläche. Aber Aviv Netter will nicht nur für meschugge – das jiddische Wort für verrückt – bekannt sein. Mit zwei Freunden organisiert er deshalb die ersten Berlin Music Video Awards: Ein fünftägiges Festival, an dessen Ende das beste Berliner Musikvideo ausgezeichnet wird. Hier haben junge Regisseure und Musiker die Chance, Produzenten zu treffen, Kontakte zu knüpfen und zusammen zu feiern. Dabei sind unter anderem Dr. Motte, MC Fitti und Miss Platnum. „Bei der After-Show-Party wirst du die außergewöhnlichsten und verrücktesten Menschen aus Berlin zusammen unter einem Dach finden.“ Mehr will er aber noch nicht verraten und schlurft mit dem Kaffee ins Wohnzimmer.

Als er nach Berlin kam, wollte Netter eigentlich nur für ein Jahr bleiben. Mittlerweile lebt er seit sieben Jahren in der Stadt, immer in Moabit. Hier fühlt er sich wohl. Er kennt jede Ecke, jeden Späti, sogar die Kellnerin aus dem Erotikkino von gegenüber. Nur Deutsch spricht er immer noch nicht. Netter leidet an Dyslexie, einer Leseschwäche, die ihn geschriebene Worte und Sätze nur schwer verstehen lässt. Das macht das Lernen einer neuen Sprache für ihn schwierig: „Es ist mir wirklich peinlich“, sagt er. „Viele Leute wundern sich, warum ich kein Deutsch spreche.“ Auch Englisch habe er nur mit speziellen Hörprogrammen lernen können. Sogar Einkaufszettel sind für ihn eine Herausforderung.

Aviv Netter redet sehr offen über sich und sein Leben. Er wächst in der Nähe von Tel Aviv auf, bis er mit 17 dort wegzieht – aus Angst vor Gewalt. Mit 15 hat er sich geoutet, seine Familie unterstützte ihn. „Aber Ende der 90er Jahre war schwul zu sein in Israel noch ein Problem, besonders in einer kleinen Stadt.“ Netter wird auf dem Weg nach Hause überfallen und krankenhausreif geprügelt. Er sucht die Sicherheit in der Großstadt, zieht nach Tel Aviv, muss früh selbstständig werden.

Er kramt sein Handy hervor, schaut sich Fotos an, die ihm seine Familie aus Israel geschickt hat. Netter wird nachdenklich: „Ich liebe Israel und vermisse meine Familie sehr.“ Drei bis vier Mal im Jahr versuche er, sie zu Hause zu besuchen. „Beim letzten Mal habe ich mich gefragt, ob ich überhaupt nach Berlin zurückkommen soll.“ Aber seine Arbeit sei nun mal hier. Erst in Berlin wurde aus Aviv Netter ein Party-Promoter und professioneller DJ. Als er hier ankam, gab es noch nicht viele Israelis in der Stadt. Er musste ständig seinen Namen wiederholen, weil keiner ihn auf Anhieb verstand. „Meistens habe ich dann einfach gesagt, ich heiße Aviv wie Tel Aviv, nur ohne das Tel.“ Das prägte sich ein. Seitdem ist sein offizieller DJ-Name „Aviv without the Tel“. Die Idee zur ersten jüdisch-israelischen Party entstand eher zufällig. Eigentlich habe er nie im Nachtleben arbeiten wollen. „Ich wollte feiern. Aber irgendwann hat mich ein Barbesitzer gefragt, ob ich nicht eine jüdische Party bei ihm machen könnte, mit israelischer Musik. „So entstand die Meschugge-Party, „die unkoschere jüdische Nacht“, wie Netter sie nennt.

Damals fragte sich Netter zum ersten Mal, was ihn eigentlich zu einem Juden macht. Seine Familie war nie besonders religiös. Erst in Deutschland begann er, koscher zu essen, in die Synagoge zu gehen und eine Kette mit dem Davidstern um den Hals zu tragen. Doch Netter merkte schnell, dass das nicht seine Auffassung vom Judentum widerspiegelte. „Den Davidstern trage ich immer noch“, sagt er. „Aber ich passe nicht in eine Synagoge. Ich esse, was ich will, und lebe mein Leben, wie es mir gefällt.“ Er sehe vieles anders, als die Regeln der Religion es ihm vorschreiben würden. „Ich möchte das Judentum feiern, mit Musik.“ Seine Synagoge, sagt er, ist heute die Meschugge-Party.

Berlin Music Video Awards, 24. April bis 28. April, Villa Neukölln, Hermannstraße 233, Neukölln. Eintritt 8 €. www. berlinmva.com. Die Meschugge-Party findet alle zwei Wochen im ZMF – Zur Möbelfabrik statt, Brunnenstraße 10, Mitte.

Hanna Stompe

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